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Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgard im Februar 2022 in London.

© IMAGO/TT

„Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ von Karl Ove Knausgård: An den Rändern der Wirklichkeit

Vom russischen Kosmismus über das Trinken von Bier bis zum Bewusstsein der Wälder: Der norwegische Literaturstar hat den zweiten Band seines „Morgenstern“-Zyklus veröffentlicht.

Als Karl Ove Knausgård im Dezember 2019 zwei Poetikvorlesungen in Tübingen hielt, sprach er davon, kein Freund literarischer Perfektion zu sein: „Für mich geht es beim Schreiben und Lesen vor allem um Überschreitung, während es beim Perfekten um Vollendung geht.“ Das bisherige Werk von Knausgård lässt sich wirklich als einzige Überschreitung begreifen, in puncto Form und Inhalt, was das Volumen anbetrifft sowieso: sein sechsbändiger autobiografischer „Min-Kamp“-Zyklus, seine vier Jahreszeitenbücher, sein Debüt, und jetzt auch seine neue Romanreihe, die in Deutschland vor einem Jahr mit der Übersetzung und Veröffentlichung von „Der Morgenstern“ ihren Anfang nahm. 

Der Morgenstern sieht aus wie ein großer, voller Mond

Dieser Tage ist mit „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ der zweite Band dieses Romanzyklus erschienen, dessen Klammer nicht das Ich des Autors ist, sondern eine neue, übernatürliche, universelle Erscheinung: ebenjener titelgebende Morgenstern, der wie ein großer, voller Mond nachts am Himmel leuchtet, am Tag jedoch nur schwach sichtbar und ohne jegliches Gewicht und Aura ist. 

Mit diesem Morgenstern haben sich die neun verschiedenen Ich-Erzählerinnen und Ich-Erzähler in dem ersten Teil auseinandersetzen müssen, so wie auf der Gegenwartsebene das jetzt auch die Erzählerinnen und Erzähler dieses neuen Romans machen, die mit ihren Vorgängern ansonsten nichts zu tun haben.

„Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ lässt sich mit seinen über tausend Seiten erst in der zweiten Hälfte als Fortsetzung lesen, und zwar auf der Ebene der Ideen, die Knausgård mit diesem Romanprojekt verfolgt. Es sind dies Ideen von einer anderen Wirklichkeit, von Übernatürlichkeit, von Unsterblichkeit, davon, dass der Tod, das Tote die Norm sind, das Leben aber die Ausnahme, das Mysterium angesichts des „unfassbar kleinen Planeten in einem gigantischen leblosen Weltraum“, wie es Knausgård in Tübingen formuliert hat. 

Zu Beginn erzählt ein Helge, der sich an einen Unfall Mitte der siebziger Jahre erinnert. Er hat nur wenige Seiten und verschwindet dann komplett aus diesem Roman (man kann davon ausgehen, dass er in einem weiteren Band wieder auftaucht); und es folgt Syvert, die eigentliche Hauptfigur.

Syvert schildert auf langen fünfhundert Seiten seine Geschichte des Jahres 1986 mit einigen wenigen Rückblenden. Er ist 19 Jahre alt, hat gerade seinen Militärdienst absolviert und sucht nun einen Job in der kleinen südnorwegischen Stadt, in der er aufgewachsen ist. Sein Vater ist 1977 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen (an den sich eben jener Helge erinnert), seine Mutter hat ihn und seinen kleinen, sieben Jahre jüngeren Bruder Joar allein aufgezogen, mit zwei, drei Putzjobs am Tag, um die Familie durchzubringen. 

Der Tod ist die Norm, das Leben die Ausnahme

Syvert kümmert sich um den Bruder, weil die Mutter an Lungenkrebs erkrankt ist, beginnt in einem Bestattungsinstitut zu arbeiten, was, wie sich später herausstellt, ein erstes entscheidendes Motiv dieses Romans ist. Und: Syvert entdeckt ein Geheimnis des Vaters, nachdem er auf Russisch geschriebene Briefe in dessen Hinterlassenschaften in einem Schuppen hinter dem Haus gefunden hat. Der Vater hatte eine Geliebte in der Sowjetunion, wie er nach der von ihm veranlassten Übersetzung der Briefe erfährt, und war kurz vor seinem Tod im Begriff, die Familie zu verlassen. 

Knausgård hat diesen Ich-Erzähler mit allen Insignien eines spätpubertierenden Jungen an der Schwelle zum Erwachsenwerden ausgestattet: einer Vorliebe für Metal, der ersten Verliebtheit in ein Mädchen und schwierigen Zusammentreffen mit ihr, den Problemen innerhalb der Familie. Eine Coming-of-Age-Story, wie man sie von Knausgård aus „Min Kamp“ zur Genüge kennt: mit typischen Knausgård-Sätzen in einem typischen Knausgård-Setting, insbesondere auch mit der ausufernden Detailiertheit, mit der der norwegische Autor jede noch so belanglose Handlung beschreibt, ein viel gehasstes Markenzeichen von Knausgård.

Typisches Knausgård-Setting

Im Grunde ist diese Romanexposition eine Zumutung und kostet mitunter viel Lektüreüberwindung. Denn die folgenlose Schmökerhaftigkeit und der handlungsimmanente Erkenntnisgewinn stehen in keinem Verhältnis zueinander, trotz Sätzen wie „Gibt es eine Erinnerung, die einen nicht bestätigt? Natürlich nicht, denn der Mensch, der das denkt, ist aus Erinnerungen aufgebaut, die ihn darin bestärken, dass es das ist, was er oder sie ist.“

Der „Neue Planet“, ein Gemälde des russischen Malers Konstantin Yuon, hier zu sehen bei einer Ausstellung in London 2017 über die russische Kunst zur Zeit der Revolution 1917 bis 1932.
Der „Neue Planet“, ein Gemälde des russischen Malers Konstantin Yuon, hier zu sehen bei einer Ausstellung in London 2017 über die russische Kunst zur Zeit der Revolution 1917 bis 1932.

© imago/ZUMA Press

Knausgård kennt in dem Syvert-Kapitel abermals kein Erzählmaß. Er legt zwar Spuren, widmet sich jedoch erst in der zweiten, der „russischen“ Hälfte seinem thematisch-essayistischen Überbau. Dieser zieht sich vom russischen Kosmismus über die Versuche, Tote zum Leben zu erwecken, insbesondere in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bis hin zu philosophischen Fragen: Ist die Welt alles, was die Sprache ist? Lässt sich die Naturwissenschaft in Sprache auflösen? Besteht nicht die Sprache selbst aus reiner Materie?

Oder, wie es sich die russische Biologin Alevtina fragt, die die Verbindung von Pilzen und Bäumen und deren Verhältnis zur Welt untersucht: „War es denkbar, (…), dass der Wald eine Form von Bewusstsein besaß, unendlich anders als unseres, so fremd, dass wir nicht einmal wussten, dass es existierte?“

Wie man den Wolf auch füttert - er schaut immer zum Wald. Wir alle sind Wölfe des Urwalds Ewigkeit.

Die russische
Schriftstellerin
Marina Zwetajewa (1892-1941)

Man hat während der Lektüre von „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ häufig den Eindruck, Knausgård bei der Konstruktion, beim Bau seines Romans zuschauen zu können, in dessen Grundgerüst herumzukrabbeln. Es fügt sich eins zum anderen, und doch entwickeln sich ganz eigene Fliehkräfte, ergibt sich eine nur unzureichende Komposition.

Hier das Leben, dort die Theorie

Alevtina ist das Kind von Syverts Vater und seiner russischen Geliebten. Sie ist die Hauptfigur des in Samara, Moskau und Karelien angesiedelten russischen Romanteils. Dieser führt nahe an die Gegenwart, auch an Putin, von dem russischen Überfall auf die Ukraine aber ist naturgemäß noch keine Rede.

Alevtina führt Knausgård auf die Fährte von Nikolai Fjodorow und Wladimir Sergejewitsch Solowjow als Vertreter des Kosmismus, auf die von Tolstoi, Pasternak und Maria Zwetajewa, von der eine Gedichtzeile dem Roman seinen Titel gegeben hat, auf die von Lenin, Trotzki und Stalin. Als Wissenschaftlerin ist Alevtina zunächst diejenige, die Knausgårds Anliegen von einer Ethik auch des Nicht-Menschlichen Leben und Form geben soll. Ihr geht es um die Lebendigkeit von Tieren und Pflanzen, dem Wald, dem Meer oder dem Wind, den Fragen nach ihrem möglichen Bewusstsein.

Darüber will sie ihre Promotion schreiben, doch nach einem gewissermaßen bewusstseinserweiternden, aber horriblen Versuch mit halluzinogenen Pilzen lässt sie davon ab und lässt sich in ihren Vierzigern noch zur Ärztin ausbilden, ganz dem Leben der Menschen zugewandt. Ihr Pendant ist die seltsame, zeitweise wie ein Eremit lebende Dichterin und Schriftstellerin Vasilisa, die sich mit der Existenz Gottes beschäftigt, mit Nikolai Fjodorow und dem Kosmismus, mit den Forschungen zur Lebensverlängerung und der Altersbekämpfung. 

„Die Ewigkeitswölfe“

Vasilisa schreibt einen Text mit dem Titel „Die Ewigkeitswölfe“, in dem es um eben jene russischen Philosophie- und Zukunftsströmungen geht. Auch wenn sie äußert, dass der Text persönlicher geworden sei als gedacht, es darin „mehr um Menschen als um Bücher, mehr und Leben als um Theorie“ gehe, so wirkt dieser Essay hier wie ein Fremdkörper im Romangefüge, wie die Stimme Knausgårds, der erklärt, was ihn gerade fasziniert und womit er sich alles beschäftigt hat. Auch die Don-De-Lillo-Kapitel mit dem Lastwagenfahrer, der die Tanks mit den in flüssigen Gas und bei minus 250 Grad konservierten, kopfüber darin schwebenden Leichen transportiert, wirken wie implantiert.

Sie sind mehr die Simulation einer Handlung, und jener Jewgenij ist trotz zweier eigener Kapitel eine völlig unwichtige Nebenfigur. Dass Syvert über dreißig Jahre später versucht, da begegnet er erstmals seiner Schwester Alevtina, das Lenin-Mausoleum zu besuchen, passt perfekt ins Romanbild und der Todes- und Todesüberwindungsthematik.

Zu diesem Zeitpunkt aber ist Karl Ove Knausgård schon wieder bei einer weitschweifigen Beschreibung von Syverts Moskau-Flug und dessen nicht zuletzt touristischen Aufenthalt, also ganz bei sich selbst und den erzählerischen Überschreitungen, die „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ noch inkonsistenter machen als andere Knausgård-Romane.

Immerhin: Die Figuren, die hier mit dem Übernatürlichen konfrontiert werden, sind an Bodenständigkeit kaum zu übertreffen. Am Ende siegen die Probleme des Alltags, die des sozialen Miteinanders. Also das Leben. Und der Tod mit seiner Endgültigkeit. Dass aber das Phantastische, Unglaubliche und Unbegreifliche zur Wirklichkeit gehören könnten, wenn auch ganz sicher nur zu einer literarischen, das vermittelt Karl Ove Knausgård mit diesem Roman glaubhaft und nachdrücklich.

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