zum Hauptinhalt
Dirk von Lowtzow in Prenzlauer Berg, seiner unmittelbaren Nachbarschaft.

© Lydia Hesse/Tagesspiegel

Dirk von Lowtzows Corona-Tagebuch „Ich tauche auf“: Dämonenräumdienst gesucht

Von der Gegenwart im Stich gelassen: Mit seinem Buch „Ich tauche auf“ hat der Tocotronic-Mastermind das Pandemiejahr 2020/21 dokumentiert

Nicht dass Dirk von Lowtzow nicht einen Hang zur Selbstironie hätte. Am 25. August des Jahres 2020 jedenfalls, so notiert er es in seinem Corona-Tagebuch „Ich tauche auf“, liest er ein Interview mit dem Schriftsteller Maxim Biller in der „Neuen Zürcher Zeitung“ und zitiert daraus einen der gewohnt kernigen Biller-Sätze: „Tagebuch zu schreiben ist eine beschissene Ich-spiele-Schriftsteller-Show.“

Schließt sich die Frage an: Spielt Dirk von Lowtzow nun Schriftsteller? Man kann davon ausgehen, dass er sich nicht anmaßt, einer zu sein, trotz seiner hübschen Autobiografie „Aus dem Dachsbau“, die er vor vier Jahren geschrieben hat. Zumal er im Hauptberuf Sänger, Texter, Gitarrist und Mastermind der deutschen Indierock-Band Tocotronic und insbesondere als solcher bekannt und eine Figur des öffentlichen Lebens ist.

Also geht das schon in Ordnung mit seinem nun auch veröffentlichten Tagebuch, schließlich dürften Musikerinnen und Musiker noch einmal mehr unter der Pandemie mitsamt deren Folgen gelitten haben als ihre Artverwandten aus der Literatur. Dirk von Lowtzow schrieb und veröffentlichte mit Tocotronic einen der ersten Songs während der Pandemie, „Hoffnung“, und obwohl das neue Album „Nie wieder Krieg“ 2020 im Grunde fertig war, zog sich die Veröffentlichung noch einmal fast zwei Jahre hin, inklusive verschobener Touren.

Vielleicht sollte man ausschließlich in Erinnerungen leben.“

Dirk von Lowtzow

Darum geht es naturgemäß häufig auch in diesem Tagebuch, das der 1971 in Offenburg geborene von Lowtzow an seinem Geburtstag am 21. März 2020 beginnt und genau ein Jahr später beendet, nahezu Tag für Tag. Er erzählt von dieser Zwangspause und was dieses Corona-Jahr mit ihm so macht. Es geht um seine Rückenschmerzen, seine Träume und seine sich immer mal wieder meldenden Dämonen in Form einer diffusen Angststörung, ums nervöse Kettenrauchen auf dem Balkon und eine mehrmonatige Alkoholabstinenz.

Er besucht Ausstellungen von befreundeten Künstlerinnen und Künstlern, ist mal vor den Toren Berlins in Buckow, mal in Offenburg bei seinen Eltern, mal in Kassel, wo er Darsteller in einem Film über Otto Mühl ist. Am häufigsten wandert er durch Berlin, vielfach den Volkspark Friedrichshain.

Nichts Spektakuläres also unter der Musiker- und Textersonne, Tagebucheinträge halt. Natürlich ist man irgendwann bei der Lektüre verstärkt auf der Suche nach einem Erkenntnismehrwert, womöglich einem ästhetischen, einem literarischen Mehrwert. Hier aber wird die Luft deutlich dünner. Dirk von Lowtzow macht die eine oder andere schöne Beobachtung und vermag sie in einen poetischen Satz zu packen. Er räsoniert über Gegenwart und Zukunft, er überlegt: „Vielleicht sollte man ausschließlich in Erinnerungen leben“, und macht sich Gedanken über die eigene Verbürgerlichung.

Das Schlimmste kommt noch

Oder er beschäftigt sich wieder mit seinen Dämonen, kommt auf Marcel Beyers Gedichtband „Dämonenräumdienst“ zu sprechen, den er wortwörtlich genommen als äußerst praktisch empfinden würde. Schließlich wechselt er, Gipfel der Literarisierung, in manchem Eintrag die Perspektive und erzählt Geschichten über das „Bärchen“, das mutmaßlich mit den Dämonen unter einer Decke steckt und eine Figur ganz eigener Art in diesem Tagebuchkosmos ist. Nun denn.

Am Ende hat man den Eindruck, sich im Jahr vertan zu haben und lauert auf den 24. Februar, den Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine, der einem bei dem Tocotronic-Albumtitel „Nie wieder Krieg“ sowieso andauernd in den Sinn gekommen ist. Der Titel bedeute im März 2021 etwas anderes als 2018, da die Lieder für das Album geschrieben wurden, notiert von Lowtzow am 16. März. Und schließt diesen Eintrag mit den Worten: „Wir ahnen, dass das Schlimmste noch vor uns liegt“.

Das ist prophetisch. Vor diesem Hintergrund wirkt das „traurige Jahr“, von dem Dirk von Lowtzow erzählen wollte, „als wäre es das schönste meines Lebens gewesen“, schon wie eine Ewigkeit her.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false