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23.10.2022, Argentinien, Buenos Aires: Spieler der Boca Juniors feiern nach einem Spiel gegen Independiente den Meistertitel in der argentinischen Liga.

© dpa

Dribbler und Drachen: Über den Mythos des südamerikanischen Fußballs

Vor der WM in Katar: In seinem Buch „Lob des Dribbelns versucht der französische Autor Olivier Guez, dem Fußball Brasiliens und Argentiniens auf die Spur zu kommen.

Wer spontan einen der berühmtesten, legendärsten Fußballer Brasiliens nennen müsste, würde wohl immer sofort Pelé nennen. Der französische Journalist und Schriftsteller Olivier Guez aber beginnt sein Buch „Lob des Dribbelns. Über den Mythos des südamerikanischen Fußballs“, nach einer längeren Einleitung, mit einem anderen Brasilianer, der im Grunde vergessen ist, auch weil er schon 1983 im Alter von noch nicht einmal fünfzig Jahren verstarb: Garrincha.

Was hat der Zauberer Garrincha vor?

„Was hat der Zauberer vor?“, beschreibt ihn Guez. „Ein, zwei, drei Beinwechsel? Wie viele Finten und Frühstarts, bevor er, nach vorn gebeugt, als würde er etwas suchen, auf die Torlinie zurast? (...) Die Verteidiger purzeln auf den Rücken oder prallen ineinander. Lächerlich gemacht, gedemütigt.“

Garrincha ist der Inbegriff des Dribblers, der oberste Repräsentant des lustvollen, spielerischen, genialen brasilianischen Fußballs. Logisch, dass Guez an ihn erinnert, ihn als Prototyp hernimmt für das, was man mit dem Fußball lateinamerikanischer Prägung bestenfalls assoziiert, mit den Zicos und Sokrates’, den Messis und Maradonas und all den anderen, die ihnen nacheifern: das Dribbling.

Über Fußball zu schreiben bedeute, zitiert Guez den uruguayischen Schriftsteller Eduardo Galeano, „die Geschichte eines Landes und einer Stadt zu erzählen“ und die populäre Kultur einer Nation zu ergründen. Genau das versucht Guez mit seinem Fußballbuch. Im Visier hat er allein Brasilien und Argentinien, die erfolgreichsten Fußballnationen des Kontinents. Fußball ist in diesen Ländern mehr als eine Religion, er ist wichtiger als der Kirchgang und die Beichte am Sonntag.

Natürlich dienen Guez die jeweiligen Fußballweltmeisterschaften insbesondere der Jahre 1958 (als Brasilien erstmals die WM gewann, es folgten vier weitere Titel) bis 1986 (als Argentinien das zweite und letzte Mal den Cup holte) als Leitfaden, weil gerade Brasilien zu dieser Zeit tatsächlich den schönsten Fußball der Welt spielte und es in Argentinien jenen Maradona gab.

Doch hauptsächlich erzählt der 1974 in Straßburg geborene Elsässer, wie der Fußball überhaupt auf den Kontinent kam, der Ende des 19. Jahrhunderts noch „unter der Fuchtel Großbritanniens“ stand. „Die brillanten Dribbler“ seien alles Nachfahren von Sklaven; Brasilien, sei „eine der meistentwickelsten und beständigsten Sklavengesellschaft der modernen Welt“ gewesen, zitiert Guez einen Historiker. Und in Argentinien, das Anfang der zehner und zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine bunt gemischte Einwanderergesellschaft war, versuchte man das maschinelle Spiel der Engländer hinter sich zu lassen und kreativ, leidenschaftlich und fintenreich zu spielen.

Diego Maradona verzauberte Neapel, wo dieses Bild eine Hauswand ziert.
Diego Maradona verzauberte Neapel, wo dieses Bild eine Hauswand ziert.

© imago images/NurPhoto

Hier ist es der „malandro“, dort „el pibe“, populäre Figuren aus dem Volk mit gleichermaßen herausragenden wie selbstdestruktiven Eigenschaften, die den Typus des neuen Fußballers südamerikanischer Prägung repräsentieren. Von einem „goldenen Zeitalter“ ist die Rede.

Das wird grauer und matter, als Brasilien beginnt, sich an dem zweckmäßigen, nüchternen Fußball europäischer Prägung zu orientieren und in Argentinien Maradona durch Messi abgelöst wird: der eine eine schillernde Figur auch neben dem Platz, was er vor kurzem wie Garrincha viel zu früh mit seinem Leben bezahlt hat; der andere schon auch genial, aber eine ansonsten blasse Figur und ein Spiegel nicht nur der Virtuosität, sondern auch der „Leere des globalisierten zeitgenössischen Fußballs.“, wie Guez melancholisch analysiert.

Naipaul, Borges und Victor Hugo

Es macht Spaß, Guez Kapitel für Kapitel zu folgen, mit ihren immer wieder neuen Anläufen, dem Fußball auf den Grund zu kommen, all das changierend zwischen Fußballsoziologie, Landesgeschichte und atmosphärischem Zeitkolorit. Guez hat beide Länder vielfach bereist, zieht Gewährsleute wie den Anthropologen und Lévi-Strauss-Schüler Roberto da Matta oder auch den Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul zu Rate, widmet dem argentinischen Schriftstellerphilosophen und Fußballhasser Jorge Luis Borges ein Kapitel, berichtet von seinem Treffen mit dem 86er-Endspiel-Kommentator Victor Hugo, der Maradona als „kosmischen Drachen“ bezeichnete (und so lange „gooooooool“ schreien konnte wie kein zweiter).

Oder er erzählt von seinen vergeblichen Versuchen, den 78er-Weltmeistertrainer der Argentinier in dessen Stammcafé in Buenos Aires zu treffen, Carlos Menotti. Und natürlich versichert sich Olivier Guez in der Einleitung auch seiner selbst: Wie er zum Fußball kam und warum dieser ihn nicht mehr losließ, eine Erfahrung, die er mit so vielen seiner Generation teilt, vom Panini-Sammelalben befüllen bis zur ersten Fußball-WM (in Guez’ Fall die spanische 1982), die man nie vergisst.

Der einzige Schönheitsfehler seines Buches: Der erste Teil über Brasilien ist schon 2014 erschienen. Die WM dort und insbesondere das 1:7-Debakel der Brasilianer im Halbfinale gegen die Deutschen fehlen. Man kann davon ausgehen, dass das die Fußballseele Brasiliens noch einmal entscheidend verändert hat. Da wäre ein Update angebracht gewesen, so farbig, lehrreich und wunderbar der zweite und aktuelle Teil über Argentinien ist.

Trotzdem und trotz Guez’ ernüchternden Schlussfazits, da er die Inflation der Fußballspiele, das Immermehr, die Gier der Verantwortlichen in aller Kürze zu beklagen meint; ja, und auch trotz der Katar-Problematik und des Zögerns, sich auf diese Fußballweltmeisterschaft einzulassen: „Lob des Dribbelns“ könnte ein Grund sein, sich nicht nur die deutschen Spiele anzuschauen, sondern auch die der argentinischen und der brasilianischen Elf.

Die Liebe zum Fußball will man sich von einem Gianni Infantino und den Seinen nun wirklich nicht austreiben lassen.

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