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Der Schauspieler Edgar Selge (74) zählte zu den Erstunterzeichnern des Briefs.

© Mike Wolff

Edgar Selge über den offenen Brief an Scholz: „Nur Rüstungsproduzenten profitieren von Waffenlieferungen“

Schauspieler Selge hat sich am Protest gegen deutsche Waffenlieferungen beteiligt. Im Interview sagt er, diese seien mit politischer Moral nicht zu begründen.

Am Donnerstag hat der Bundestag beschlossen, dass Deutschland der Ukraine auch mit Waffenlieferungen im Krieg gegen Russland zur Seite steht. Einen Tag später haben sich über zwei Dutzend Intellektuelle und Kulturschaffende auf eine Initiative der „Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer in einem Offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz gewandt, um ihn darin zu bitten, zurück zu seiner „Position der Besonnenheit“ zu kehren und keine schwere Waffen an die Ukraine zu liefern: „Wir bitten Sie im Gegenteil dringlich, alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können.“ Einer der ersten Mitunterzeichner des Briefes ist der Schauspieler Edgar Selge.

Herr Selge, warum halten Sie Waffenlieferungen für die Ukraine für falsch?
Ich finde, jetzt ist der richtige Zeitpunkt für diesen Offenen Brief, weil es im Moment eine Eskalation in der Rhetorik gibt in der öffentlichen Diskussion, die beendet werden muss. Wir fokussieren uns hier unausgesetzt auf Waffenlieferungen statt auf Waffenstillstand. Die Folge wird sein, dass die zivilen Opfer in der Ukraine durch diese neuen Lieferungen schwerer Waffen ein Maß erreichen werden, dass mit keiner politischen Moral mehr zu rechtfertigen ist.

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Die Forderungen nach den Waffen kommen aber gerade auch aus der Ukraine ...
Ja, das heißt aber nicht, dass wir, die wir nicht dort leben, dieses Land mit Waffen vollpumpen müssen. Wir müssen die Ukrainer eher dazu bringen, sich zu fragen, wie viele Menschen sie in diesem Verteidigungskampf noch opfern wollen. Sie können diesen Krieg gegen Putin nicht gewinnen, auch wenn ihnen das die Amerikaner, die selbst längst vergessen haben, was es heißt, einen Krieg im eigenen Land zu führen, immer wieder suggerieren. Unsere Aufgabe ist es, die Politiker dazu zu bringen, sich an einen Verhandlungstisch zu setzen. Was wahrlich keine leichte Aufgabe ist.

Muss man Putin nicht etwas entgegensetzen, darf man ihm das Handlungsdiktat überlassen?
Was die Sanktionen anbetrifft, kann man ja noch viel weitergehen. Man kann tatsächlich den Gas- und Ölhahn zudrehen. Da würde Deutschland eine Hilfe leisten, die uns allen wirklich etwas abverlangt, und zugleich Putin empfindlich trifft. Dann zahlen wir für unsere Haltung wenigstens einen Preis.

Aber diesen Schritt trauen wir uns nicht zu gehen, weil wir massiv unter dem Druck der Industrie und Wirtschaft stehen. Schwere Waffen zu liefern, hat deshalb eine Alibifunktion, beruhigt unser Gewissen und heizt zudem die Rüstungsspirale auf der ganzen Welt an, mit unübersehbaren Folgen für die Ukrainer und irgendwann auch für uns alle. Man kann dann zwar das Gefühl haben, man hätte was Wichtiges beigetragen. Aber das ist ein Irrtum. Die Einzigen, die davon wirklich profitieren, sind die Rüstungsproduzenten.

Was ist mit der Sorge vor einem Atomkrieg?
Ja, dazu kommt, dass Putin in seiner gesetzlosen Brutalität und Willkür mit einem atomaren Schlag droht. Davor darf man durchaus Angst haben. Es gibt in einer atomaren Auseinandersetzung auch eine Mitverantwortung für die angegriffene Seite.

Man darf kein Motiv liefern für so einen verbrecherischen „Erstschlag“. Und ein solches Motiv kann sich aus der Lieferung schwerer Waffen durchaus entwickeln. Mir imponiert der Habermas-Satz aus der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ), wo er von der irritierenden Selbstgewissheit spricht, „mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltende Bundesregierung auftreten“ .

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Olaf Scholz war lange zögerlich. Von Selbstgewissheit ist bei dem Bundeskanzler keine Spur bislang gewesen...
Die Selbstgewissheit liegt bei anderen, bei Herrn Hofreiter, bei Frau Strack-Zimmermann. Und vor allem gibt es diesen ungeheuren Druck aus der Ukraine selbst. Es wird Zeit, dass die Öffentlichkeit Scholz den Rücken stärkt. Deshalb dieser Brief. Es gibt viele Menschen, die die Vorsicht und die Sorgsamkeit, mit der er bisher Politik gemacht hat, gut finden .

Wo ist bei Ihnen die Grenze der Solidarität mit der Ukraine?
Meine Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung ist ungebrochen und sie wächst mit diesem Brief. Doch geht es um deren Schutz, und nicht darum, sie in einem Kampf zu unterstützen, in dem am Ende kaum noch einer übrig ist. Wo soll das enden? In einer total zerstörten ukrainischen Landschaft, in der es nicht mehr möglich sein wird, zu leben?

In dem Offenen Brief wird ein „Kompromiss“ gefordert, „den beide Seiten akzeptieren können“. Wie soll der Ihrer Meinung nach aussehen?
Sie fragen mich jetzt wie einen politischen Entscheidungsträger, der ich nicht bin. Aber es scheint doch so, dass die Ukraine durch die heldenhafte Verteidigung bis jetzt die russische Seite daran gehindert hat, wesentliche Gewinne zu machen. Auch im Donbass stockt der russische Angriff. Das ist ein guter Moment für Verhandlungen. Dass die Ukraine dabei Opfer bringen muss, also auch Gebiete verlieren wird, ist möglich. Wir tragen eine Verantwortung als Zeugen dieses Krieges, uns die Folgen unserer Hilfe für die Ukraine vor Augen zu führen. Der Offene Brief ist dafür ein Plädoyer.

Haben die deutschen Intellektuellen und Kulturschaffenden zu lange geschwiegen?
Nun, ich finde, der Zeitpunkt ist jetzt da. Innerhalb eines Tages ist der Brief von 18.000 Menschen unterschrieben worden.  Und es passt, dass gerade jetzt  auch Jürgen Habermas in der SZ seine Stimme in eine ähnliche Richtung erhoben hat. Olaf Scholz wird registrieren, dass es genug Menschen in Deutschland gibt, die es richtig fanden, wie er sich in den letzten Wochen verhalten hat.

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