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Die Schriftstellerin Iris Wolff. Sie wurde 1977 in Sibiu geboren.

© Maximilian Gödecke

Gehen, um zu bleiben: Iris Wolffs Roman „Lichtungen“

Mit ihrem neuen, größtenteils im Norden Rumäniens angesiedelten Roman ist der 1977 in Sibiu geborenen und in Freiburg lebenden Schriftstellerin abermals ein großer Wurf gelungen.

Ein Paar auf Europa-Tour, von Zürich nach Paris, dann durch Frankreich, in den Süden des Landes und von dort nach Italien – so beginnt „Lichtungen“, der neue Roman von Iris Wolff. „Neun“ steht über dem Kapitel. Sie, Kato, scheint zu malen, auf öffentlichen Plätzen, er, Lev, begleitet sie, geht seinen Gedanken nach, wird von Wolff gezielt personal in den Blick genommen: „Irgendwann waren die Gedanken an zu Hause mehr geworden, ein sorgend-sehnendes Gefühl, das ihn zurückrief, doch er sagte nichts, wartete auf den richtigen Augenblick, der nicht kam.“

Doch dieser Augenblick kommt, beide reisen gemeinsam zurück. Wohin genau, erfährt man nicht, nur dass er sie nicht schon wieder verlieren wollte.

Schnitt, nächstes Kapitel, das achte, viel längere, Lev ist gerade in Zürich angekommen und stößt zu Kato.

Es braucht nicht lange, um zu erkennen, dass Iris Wollf ihren Roman chronologisch rückwärts erzählt. So begegne man sich schließlich auch im richtigen Leben, wie die 1977 im rumänischen Sibiu geborene Schriftstellerin in einer Vorbemerkung meint: stets in der Gegenwart, um danach die Vergangenheit seines Gegenübers, seines Freundes oder Freundin, seiner großen Liebe zu erfahren.

„Lichtungen“ arbeitet sich also auf dem Zeitstrahl zurück in das Leben von Lev und Kato, insbesondere von Lev, aus dessen Perspektive Wolff erzählt. Man fühlt sich erinnert an Scott F. Fitzgeralds Erzählung „Benjamin Button“ oder auch Inger-Maria Mahlkes Teneriffa-Roman „Archipel“. Diese Konstruktion ist eine gewagte, sie könnte auch überfordernd sein. Doch geht es Wolff in ihrem Roman nicht um eine genaue Verortung in der Zeit, um Linearität, sondern um Räume und Atmosphären und Räume. Und um eine Liebe, die sich von einer gemeinsamen Kindheit und Jugend an entwickelt hat und für die sowas wie Zeit keine Rolle spielt.

Man ahnt im Lauf der Lektüre nur, wie alt Lev und Kato sein mögen und wann sie geboren sind. So ziemlich am Ende des Romans ist Lev 11 Jahre , da lernt er Kato kennen, und am Schluss erlebt man ihn als kleinen Jungen, der von seinem Vater eine gute Nacht gesagt bekommt und schließlich „loslassen“ kann.

Beide stammen aus einem kleinen Dorf im Norden Rumäniens, nahe der Iza, einem gerade einmal achtzig Kilometer langen Zufluss der Theiss. Es ist die Zeit lange vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, die Zeit des rumänischen Diktators Ceaușescu. Im sechsten Kapitel erreicht das Dorf beispielsweise die Nachricht, dass es in einem Kernkraftwerk nicht weit von Kiew einen Reaktorunfall gegeben hat. Tatsächlich spielt sich das Leben im Dorf relativ unabhängig von den Gezeiten und politischen Turbulenzen ab, so entlegen wie es ist.

Deutsche und Rumänen

Iris Wollf, die als Deutsch-Rumänin 1985 in die Bundesrepublik kam, siedelt ihre Romane – „Lichtungen“ ist ihr fünfter – immer wieder in den ländlichen Gegenden ihrer Heimat an, im rumänischen Teil des einst vorwiegend von Deutschen besiedelten Banats. Hier reicht der Blick oft weit ins Land, ist der Himmel hoch, wähnt man sich am Ende der Welt, und so verhält sich das auch mit Levs und Katos Dorf. Europa ist viel größer als es von Zürich, Paris oder selbst Budapest aus den Anschein hat.

Mehr noch als von den Gängeleien durch die sozialistische Diktatur und die Securitate wird das Zusammenleben der Bewohner und Bewohnerinnen von ihren unterschiedlichen Herkünften bestimmt: Levs Großmutter, Bunica, ist Rumänin, seine Mutter Lis Siebenbürgen-Deutsche. Sie hat einen Rumänen geheiratet, der drei Kinder mit in diese Ehe bringt.

Lev ist das vierte und einzige Kind dieser neuen Beziehung. Von einem seiner Stiefbrüder, der überdies mutmaßlich für die Securitate arbeitet und ein Anhänger des Systems ist, wird er immer wieder als „Deutscher“ gehänselt, „ihr“ und „wir“ ist bei ihm die Devise.. Levs Großvater wiederum, Ferry, der Vater seiner Mutter, fühlt sich weniger als Deutscher, sondern mehr noch als Österreicher, als Bürger der einstigen Habsburger Monarchie. Ferry flüchtet über Ungarn nach Wien, nachdem ihn Lev mit einem Auto an die grüne Grenze gebracht hat.

Verstreute Erinnerungen

Natürlich erfährt man all das erst nach und nach, das bringt Wolffs Erzählweise mit sich. Von einem Unfall, den Lev damals als Elfjähriger hatte, ist immer mal kurz die Rede, vor allem davon, dass er deshalb monatelang nicht laufen konnte und ans Bett gefesselt war. Doch es zeichnet jedes der Kapitel aus, das es sich für sich lesen lässt. Wolff überfordert weder sich noch ihre Leserinnen und Leser mit einem allzu großen Personalensemble, mit historischen Ereignissen oder mit einer komplizierten Handlung.

Lev, wie er nach dem Weggang Katos aus dem Dorf eine Radtour unternimmt, was für Probleme er beim Militär hat, wie er Ferry zur Flucht verhilft, wie er diesen zu einer Kur begleitet: Szene für Szene vermittelt Wollf wohldosiert ihre Informationen und erzählt von der, obwohl es auf den ersten Blick gar nicht den Eindruck macht, von der unverbrüchlichen Beziehung zwischen Lev und Kato. Von ihrem Gehen und seinem Bleiben, auch stellvertretend für die Zeit nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, nach dem Sturz Ceaușescus, da viele sich auf den Weg gen Westen machten und die Daheimgebliebenen sich geradezu rechtfertigen müssen, warum sie nicht auch gehen.

Wolffs macht das mit einer Prosa, die zurückhaltend, leise wirkt, die präzise, poetisch und schlichtweg schön ist und einen melancholischen Grundton hat. Lev ist die Hauptfigur, Kato tummelt sich im rückwärtigen Verlauf des Romans mehr und mehr im Hintergrund, und doch steckt auch in jeder Nebenfigur einiges an Tiefe: ob das Levs Großmutter Bunica ist, Ferry oder Marinela. Mit Marinela geht Lev eine Beziehung ein, ohne dass vorher viele Worte fallen mussten: „Der Perlenvorhang nahm ihre Gestalt auf, fiel in hellen Tropfen die Länge ihres Körpers herunter. Halb im Haus, halb auf der Veranda, eine Hand am Türrahmen, wandte sie sich zurück. Sie sah ihn so lange an, bis er verstanden hatte.“

Auch Marinela gehört zu Levs Vergangenheit, als seine Geschichte gerade beginnt, so wie seine Kindheit und Jugend. Doch alles ist ihm stets präsent, er und dieser Roman werden von der Erinnerung gesteuert, der verlorenen Zeit. „Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen“, heißt es an einer Stelle, der sich der Titel verdankt. Iris Wolffs Roman wirkt trotz der umgekehrten Erzählweise wie aus einem Guss. Wer ihn dann nach der Lektüre kurzerhand von hinten liest, wird einmal mehr belohnt.

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