zum Hauptinhalt
Ehrung im Weißen Haus. Obama überreicht die National Humanities Medal an Marilynne Robinson (2012).

© picture alliance / dpa

„Gilead“ von Marilynne Robinson: Was Obama gern liest

2015 erklärte der scheidende US-Präsident, dass er Marilynne Robinsons Roman verehre. Dieser erzählt die Geschichte eines Pastors in Iowa - und von den Prüfungen der Gläubigen.

In den Vereinigten Staaten zählt sie zu den meistgerühmten Autorinnen ihrer Generation, obwohl die 1943 geborene Marilynne Robinson neben einigen Essays nur vier Romane veröffentlicht hat. Und als Barack Obama 2015 öffentlich erklärte, dass er ihre Bücher verehre, stieg ihr Ansehen noch mehr. Gerade im Fall von „Gilead“ hätte man am wenigsten erwartet, dass sich der scheidende Präsident für den 2004 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman begeistert. Schließlich handelt es sich um keinen modernen Gesellschaftsroman, der den Trends und Tendenzen unserer Epoche auf der Spur wäre, auch nicht um einen intrigenreichen Politthriller im Stil der TV-Serie „House Of Cards“, sondern um ein tiefinnerliches Buch der religiösen Suche, voller spiritueller Symbolik und atmosphärischer Beschreibungen.

Obama las es in Iowa, wo Robinson heute lebt, in den Wahlkampfpausen vor seiner ersten Amtszeit. Der Protagonist, der Prediger John Ames, gilt ihm seitdem als eine seiner liebsten literarischen Figuren. Ames, sagte er in einem langen, von der „New York Review of Books“ in zwei Teilen dokumentierten Gespräch mit Robinson, sei „liebenswürdig und vornehm und ein wenig verwirrt darüber, wie er seinen Glauben mit all den Mühen vereinbaren soll, die seine Familie durchlebt.“ Obama gesteht: „Ich habe mich einfach in diese Figur verliebt.“

Wer ist dieser Pastor Ames? Viele Jahrzehnte hat er allein gelebt, dann ist Lila in sein Leben getreten. Von dieser eigenwilligen Liebesgeschichte erzählt „Lila“, der auf Deutsch bereits vor einem Jahr erschienene Roman. Robinsons Werke sind miteinander verflochten, sie setzen sich aber nicht gegenseitig voraus. In fast abrahamitischem Alter ist Ames noch Vater geworden. Sein Sohn ist jetzt sechs, und er, der 76-Jährige wird wohl nicht mehr lange leben, sein Herz ist schwach. Deshalb schreibt er zur späteren Lektüre einen langen Brief an den Jungen, als Ersatz für die Gespräche, die den beiden nicht mehr vergönnt sein werden. Dieser lange Brief – das ist „Gilead“. Ein Buch der Erinnerung, der Rechtfertigung und Mahnung. Die persönliche Anrede und Perspektivierung trägt viel zum warmherzigen, direkten Ton bei, der Robinsons Bücher auszeichnet.

Gilead war ein Wehrdorf gegen die Ausweitung der Sklaverei

Gilead, der Name des fiktiven Kaffs in Iowa, klingt nicht zufällig nach Galiläa. Heilige und Märtyrer habe es hier gegeben, versichert Ames. Es gehört zu jenen Gemeinden, die im 19. Jahrhundert im Mittleren Westen als Wehrdörfer gegen die Ausweitung der Sklaverei an der Grenze zu den Südstaaten gegründet wurden. Schon Ames’ Vater und Großvater waren Prediger, und die vielleicht schönsten Passagen des Buches sind diesem knorrigen Charakter gewidmet, seiner grenzenlosen Großzügigkeit, aber auch seiner kriegerischen Entschlossenheit.

Schon vor dem Bürgerkrieg ging der Großvater nach Kansas, um die Abolitionisten im Kampf gegen die Sklaverei zu unterstützen. Es ging hoch her in bleeding Kansas zwischen den Befürwortern und Gegnern, bis der Staat 1861 der nördlichen Union beitrat. Später predigte der Großvater die Menschen in den „gerechten“ Krieg, denn „solange es Sklaven gebe, werde es keinen Frieden geben“.

1880 wurde John Ames geboren; 1956 verfasst er diese Aufzeichnungen. Durch diese zeitliche Entfernung erklären sich einige anachronistisch wirkende Momente des Romans, etwa wenn er auf die „neuen“ Bücher des „Unglaubens“ und der Skepsis zu sprechen kommt – womit Jean-Paul Sartres „Ekel“ und André Gides „Immoralist“ gemeint sind.

Es gibt magische Beschreibungen

Auch mit dem deutschen Philosophen Ludwig Feuerbach, in der Religionskritik ein Vorläufer von Marx, schlagen Ames und sein Pfarramts-Freund Boughton sich herum. Ames lehnt es jedoch ab, auf die Erschütterungen des religiösen Weltbilds mit Beweiseifer zu reagieren: „Weil sich aus der Defensive heraus über Gott nichts Wahres sagen lässt.“

Wahr ist aber auch, dass das menschliche Leben voller Kummer, Verzweiflung und Not ist. Ames, der die schreckliche Dürre und Depression der dreißiger Jahre erlebt hat, ist der Letzte, der das in seinem Glaubenseifer schönreden würde. Zu seinen schlimmsten Erinnerungen gehört das große Sterben am Ende des Ersten Weltkriegs, der Horror der Spanischen Grippe, die mehr Menschen umbrachte als der gesamte Krieg: „Es war eine seltsame Krankheit. Die Jungen ertranken in ihrem eigenen Blut … Es starben so viele so schnell, dass man kaum wusste, wohin mit ihnen, und die Leichen im Hof stapelte.“

Das sind, für den religiösen Menschen, unergründliche Prüfungen. Marilynne Robinson bezieht sich allerdings auch auf Calvin, der die Schöpfung als „Theater der Herrlichkeit Gottes“ feierte. In diesem Theater sind ihre Figuren zu Hause. Ohne die Übel der Welt zu vergessen, lassen sie die Blicke freundlich schweifen über die Schönheiten und Sonderbarkeiten des Lebens. Diese Wahrnehmungsfreude ist eine der Qualitäten ihrer Prosa, die auch in Uda Strätlings Übersetzung zur Geltung kommt. Es gibt magische Beschreibungen: „Das Licht hatte gleichsam eine Schwere – es presste die Feuchtigkeit aus dem Gras und die saure Würze des Harzes aus den Verandabrettern und lastete sogar ein wenig auf den Bäumen.“

Steht in der protestantischen Tradition der Vereinigten Staaten

Zu den biblischen Motiven gehört das des verlorenen Sohnes. Im Roman übernimmt diese Rolle Jack Boughton, der eigentlich John Ames Boughton heißt, weil er von John Ames getauft wurde. Jack ist das schwarze, aber umso mehr geliebte Schaf unter den ansonsten prächtig geratenen Sprösslingen des Freundes Boughton, schon als Kind ein heimtückischer Charakter, später auf die schiefe Bahn geraten.

John Ames kann ihm vieles und auch die gegen ihn selbst gerichteten Bosheiten verzeihen, nicht aber, dass er eine Frau aus armen Verhältnissen schwängerte und sitzen ließ. Nun kehrt Jack als Mittvierziger nach Gilead zurück, inzwischen selbst ein leidgeprüfter Mann, liiert mit einer Afroamerikanerin, deren strenggläubige Familie aus Tennessee nichts von ihm wissen will. Mit John Ames bespricht er seine Probleme, und auch wenn er sich menschlich gereift zeigt, ist er noch immer ein Mann für unangenehme Überraschungen.

Wo komme ich her, wo soll ich hin? Der alte Pastor erzählt vom Leben und Sterben, vom Glauben und Predigen, von der Suche nach Trost und dem rechten Weg. Handlung ist Nebensache, stattdessen lauscht man einem eigenwilligen, lebenserfahrenen Erzählstrom. So sehr die poetische Sprache zu schätzen ist, am Ende wird es ein wenig viel mit all den Gotteserfahrungen und Gebeten.

„Gilead“ ist ein Roman für Leser, die sich selbst zumindest gelegentlich mit Glaubensfragen herumschlagen und außerdem eigensinnige, gern etwas anachronistische Bücher schätzen. Es ist ein Roman, der die hierzulande immer wieder unterschätzten protestantischen Traditionen der Vereinigten Staaten in Erinnerung ruft. Und was liest Donald Trump? Laut „Bild“-Zeitung liegt auf seinem Schreibtisch in New York ein Buch über die Jugend einen US-Teenagers und Tennisspielers, der in China aufwächst.

Marilynne Robinson: Gilead. Roman. Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016. 318 Seiten, 20 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false