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Ladislav Sutnar, Teeservice, 1928, Ausführung: EPIAG (Erste Porzellan-Industrie AG), Loket.

© Colya Zucker

„Hej rup! Die Tschechische Avantgarde“: Relaxen für Fabrikarbeiter, leichte Möbel, schwungvolles Ornament

Das Bröhan-Museum entdeckt die tschechische Avantgarde der Zwischenkriegszeit. Mit dabei sind eine Künstlergruppe namens Pestwurz und andere Design-Gewächse.

Hej Rup!, ruft der Ausstellungstitel: „Auf geht’s“. Nicht trödeln, Geschichte wird gemacht. Kaum ist der neue demokratische Staat Tschechoslowakei 1918 auf Europas Landkarte erschienen, beginnt ein kultureller Aufbruch. Der wirtschaftliche Aufschwung gibt den Kreativen Rückenwind. Eine nationale Identität wird gesucht, zugleich die Vernetzung mit anderen Avantgarden, insbesondere in Paris, vorangetrieben.

Dass den Kulturschaffenden nur zwei Jahrzehnte bleiben bis zur Zerschlagung der tschechoslowakischen Republik durch die deutschen Nationalsozialisten, kann niemand ahnen. Aber sie machen Tempo. Nicht nur Prag, dem kulturellen Zentrum Böhmens, sondern auch im mährischen Brünn und sogar weiter im Osten in der Kleinstadt Zlín regt sich radikales Gestalten und Denken. In über 300 Gemälden, Grafiken, Collagen, Skulpturen und Fotografien lässt sich dies im Bröhan-Museum verfolgen.

Karel Teiges „Collage No. 142“ von 1940 kommt aus dem Museum der tschechischen Literatur in Prag.

© Museum der tschechischen Literatur, Prag

Blühende Wirtschaft und kultureller Aufbruch

Ein ganzer Raum widmet sich dem Bauprojekt in Zlín. Dort ist seit Generationen die Schusterfamilie Baťa tätig. Ab 1925 denkt Tomáš Baťa, durch einen Großauftrag der österreichisch-ungarischen Armee im Ersten Weltkrieg finanziell saniert, im großen Stil neu. Detroits Autofabriken sind sein Vorbild. Er will die Prozesssteuerung optimieren, Arbeitsabläufe ankurbeln. Um seine neue Schuhfabrik gruppieren sich scharenweise Mini-Einfamilienschachteln für die Arbeiter, alle voll möbliert. Hinzu kommen Großkino, Schulen, Kaufhaus und der bis dato höchste Wolkenkratzer Europas als Verwaltungszentrale.

Das Büro des Chefs lässt sich wie eine riesige Fahrstuhlkabine auf wechselnde Etagen hochfahren. Alle Bauteile werden nach Rastermaß standardisiert und aus Stahlbeton gleich vor Ort gegossen. Wandfotos, Architekturmodelle und knackige Zitate im 20er-Jahre-Layout machen es anschaulich. Kein Arbeiter sollte in diesem Paradies der Werktätigen zu Politprotesten Grund haben oder in Kneipen abhängen, weil jeder hier im eigenen Garten relaxen kann.

Zlín schlägt Detroit

Utopie oder Dystopie? Die internationale Aufmerksamkeit war groß: „Zlín schlägt Detroit“, so hieß es. Der tschechische Künstler und Theoretiker Karel Teige fand das Projekt Zlín autoritär. Immer wieder in der Ausstellung taucht sein Name auf. Denn fast überall in den Gruppierungen und Projekten der Avantgarde mischte er mit.

Schlag auf Schlag wechseln die Stile, vom Kubismus bis zum Surrealismus. Gruppen werden gegründet und Zeitschriften als Sprachrohr oft gleich mit dazu. Eine der wichtigsten nannte sich „Devětsil “, Pestwurz: das Antidot gegen abgestandenen Konservativismus wurde 1920 im Prager Kaffeehaus „Union“ aus der Taufe gehoben.

Wie in einem Zeitschriftenkiosk, ganz im Stil der Zeit gestaltet, liegen die Jahrgänge von „RED“ (Revue des Devětsil) aus, darunter die Bauhaus-Sondernummer von 1930. Auch tschechische Bücher im rasanten Typofoto-Design sind im Angebot: etwa Ideenfutter vom „rasenden Reporter“ Egon Erwin Kisch, dem Pariser Surrealisten Paul Eluard oder Vítězslav Nezval. Der Dichter gehörte zu den Mitbegründern des „Poetismus“. Diese spezifisch tschechische Spielart der Moderne wollte spartenübergreifend Malerei, Literatur, Architektur, Theater verbinden und auch sonst keine Scheuklappen akzeptieren: „Die Philosophie des Poetismus hält Leben und Werk nicht für zwei verschiedene Sachen“, proklamierte Teige.

Mobile, leichte Möbel

Die Enfilade der tschechischen Avantgardebewegungen beginnt mit dem Kubismus, angeregt von Paris. In Prag wurde aber nicht nur aufs Schönste im kubistischen Zersplitterungsstil gemalt. Es entstanden auch kubistische Wohnhausfassaden, Schreibmöbel, Sofas und kubistische Vasen. Die hier sich austobende zackenverliebte Ornamentfreude war aber bald passé. Denn nun paradieren Stahlrohrtische, rollbare Teewägen, coole Metallregale nebst schwenkbaren Leuchten. Ein niedriger Freischwingersessel mit kräftig-rotem Sitzbezug von Ladislav Žáks lädt 1931 zur „Siesta“, vermutlich bequem wie eine Hängematte.

Die Möbel ähneln Turngeräten, mobil und leicht. Selbst ein wuchtiger Schreibtisch, aus der wichtigen Metallmöbelfabrik Hynek Gottwald in Prag, manövriert auf Kufen durch die Gegenwart: jederzeit verrückbar, wenn der Bedarf sich ändert. Die Bestellkataloge der führenden Hersteller für Typenmöbel aller Art sind gleich mit ausgestellt. Erst als ab Mitte der 1930er die Waffenproduktion angekurbelt wurde, war Schluss mit den schicken Metallmöbeln. Nun musste wieder in Holz getischlert werden.

Die Villa Tugendhat

Eine der absoluten Ikonen moderner Architektur steht im mährischen Brünn, von Ludwig Mies van der Rohe errichtet: „Die Villa Tugendhat ist ein Höhepunkt des modernen Snobismus, ein Angeberstück für Millionärskultur, das bei aller formalen Qualität nichts anderes ist als die Neuausgabe eines protzigen Barockpalais,“ urteilte Karel Teige. Er selbst propagierte ein anderes Extrem in seinem Buch „Die Kleinstwohnung“ 1932. Seine Idee des Kollektivhauses macht Schluss mit dem herkömmlichen Familienleben. Alles wird kollektiviert, vom Kochen bis zur Kindererziehung. Das Ganze organisiert sich nach Art eines Bienenstocks, mit Zellen für die Bewohner.

Den Gegenpol zu solchen rationalistischen Ideen bildet der aus Paris herüberschwappende Surrealismus. Auch die Fotografie, ohnehin eine der Stärken der tschechischen Avantgarde, lotet nun Räume des Irrealen aus. Aus Fliegenpilz und Frauenbeinen wird über der Prager Altstadtsilhouette eine träumerische, erotisch aufgeladene Szenerie collagiert. Leider nur ein einziges Gemälde von Toyen ist ausgestellt. Sie zählte mit ihrem Kreativpartner Jindřich Štyrský zu den wichtigsten tschechischen SurrealistInnen. Zuvor hatten beide zunächst eine eigene Kunstströmung namens „Artifizialismus“ ausgerufen.

1938 sind beide dann auf der internationalen Surrealistenschau in Paris dabei. Der im mährischen Chropyně geborene Emil Filla malte lyrisch deformierte Frauenkörper. Allein, sie erinnern allzu sehr an Picassos surreale Periode. Zwischen Offenheit für Austausch und Epigonie verläuft eben ein schmaler Grat. Die tschechische Moderne hatte keine Scheu, sich zum Schmelztiegel diverser Ideen aus Ost und West zu machen. Es ist ein Vergnügen, diesen vergessenen Kontinent der Moderne wiederzuentdecken. Hej rup!

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