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Bertha Pappenheim als Glikl. So ließ sich die Memoiren-Übersetzerin 1925 von Leopold Pilichowski malen.

© mauritius images / History and A

Jüdisches (Geistes-)Leben in Deutschland: Und die Tinte floss reichlich

Glikl bas Judah Leib, Moses Mendelssohn und Else Ury hatten jüdische Wurzeln. In verschiedenen Epochen prägten sie die deutsche Kultur mit.

Glikl bas Judah Leib

Ich bin in Hamburg geboren“, berichtet die Kauffrau Glikl bas Judah Leib, bekannt auch als „Glückel von Hameln“, die erste Frau, die in Deutschland eine Autobiographie hinterlassen hat. „Aber wie ich gehört habe – von meinen lieben Eltern und auch von anderen – bin ich keine drei Jahre alt gewesen, als alle Juden von Hamburg vertrieben worden sind.“

Das Leben der außergewöhnlichen Frau beginnt also mit einer Vertreibung, die – nach christlicher Zeitrechnung – im Jahre 1649 stattfand. Auch im Fortgang ihrer Memoiren wird die sehr fromme Glikl immer wieder auf Bedrängnisse durch den Judenhass ihrer Umgebung zu sprechen kommen. Sie beginnt mit dem Schreiben, um sich über den Tod ihres geliebten ersten Mannes hinwegzutrösten, und berichtet ihren Kindern in sieben kurzen Büchern auf Westjiddisch von einem überaus aktiven Leben. Noch vor ihrem 14. Geburtstag wird sie mit Chaijm von Hameln verheiratet, 14 Schwangerschaften folgen. Als ihr Mann stirbt und sie mit acht noch unverheirateten Kindern zurücklässt, führt sie seinen Diamanten- und Perlenhandel weiter, tilgt seine Schulden, besucht die Messen in Leipzig und Frankfurt und schafft es, alle ihre Kinder in wohlhabende jüdische Familien einheiraten zu lassen. Eine zweite Ehe bringt ihr kein Glück. Zu ihren entfernten Nachkommen zählt nicht nur die Gründerin des Jüdischen Frauenbundes Bertha Pappenheim, die 1910 Glikls Memoiren ins Hochdeutsche übersetzte und so eine einzigartige Quelle für das jüdische Leben im 17. Jahrhundert eröffnete, sondern auch, Überraschung: Heinrich Heine.
Dorothee Nolte

Moses Mendelssohn

Moses Mendelssohn
Moses Mendelssohn

© Imago/Leemage

Wie so viele bedeutende Berliner kam auch Moses Mendelssohn von woanders her – wenn auch aus der Nähe: Geboren wurde er 1729 in Dessau. Der Legende nach soll er seinem Oberrabbiner David Fraenkel zu Fuß in einer fünftägigen Wanderung nach Berlin gefolgt sein, an die dortige neue Talmudschule. Der 14-Jährige arbeitet zunächst als Hauslehrer, schließt Freundschaften mit Gotthold Ephraim Lessing, der ihn in seinem Drama „Nathan der Weise“ als Idealtyp eines toleranten Humanisten verewigt, oder mit Verleger Friedrich Nicolai und entwickelt sich schließlich zum wichtigsten jüdischen Philosophen des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Er veröffentlicht „Philosophische Schriften“ (1761) und „Ueber die Frage: was heißt aufklären“ (1784), übersetzt die Tora (die fünf Bücher Mose) für Juden ins Deutsche und gilt als prominenter Vertreter der Haskala, der jüdischen Aufklärung, die die Ideen von Toleranz und Gleichberechtigung auch für Juden anstrebt.

Moses Mendelssohn stirbt 1786, er ist auf dem Jüdischen Friedhof in der Großen Hamburger Straße beerdigt. Die Familie, deren Stammvater er ist, hat Gelehrte, Bankiers und Musiker hervorgebracht; am berühmtesten: Enkel Felix Mendelssohn Bartholdy. Die Mendelssohns sind Beispiel für die fruchtbare Symbiose, die für Juden in einem deutsch-christlichen Umfeld möglich war. Da neue Straßen in Kreuzberg nur nach Frauen benannt werden dürfen, wird mit typisch jüdischem Witz auch Mendelssohns Gattin geehrt: Seit 2013 heißt der Platz vor dem Jüdischen Museum Fromet-und-Moses-Mendelssohn-Platz.
Udo Badelt

Else Ury

Else Ury war die bekannteste Jugendbuchautorin der zwanziger Jahre.
Else Ury war die bekannteste Jugendbuchautorin der zwanziger Jahre.

© picture alliance / akg-images

Sie trägt die Nummer 638. Als der Güterwaggon im Januar 1943 in Auschwitz ankommt, wird Else Ury mit tausend anderen deportierten Berliner:innen direkt in die Gaskammer getrieben. Wissen die KZ-Aufseher, dass sie eine berühmte Schriftstellerin ermorden?

„Habt ihr schon mal unser Nesthäkchen gesehen? Es heißt Annemarie, Vater und Mutti aber rufen es meistens Lotte. Eine lustige Stubsnase hat unser Nesthäkchen und zwei winzige Blondzöpfchen mit großen, hellblauen Schleifen“. Fast 100 Jahre ist es her, dass Else Ury diese Zeilen schreibt. So beginnt das erste Buch über die Arzttochter Annemarie Braun, das 1913 erscheint. Die zehnbändige Serie beschert Ury bald einen Riesenerfolg. Die gebürtige Berlinerin wird die bekannteste Jugendbuchautorin der zwanziger Jahre. Ihre Leserinnen lieben die wilde Heldin, die sie geschaffen hat.

Es ist eine heile Welt, die Else Ury in ihren Backfischromanen zeichnet. Ähnlich sieht auch ihre Kindheit aus. Sie kommt als Tochter eines Tabakfabrikanten zur Welt und wächst wohlbehütet in einem großen Haushalt mit Stubenmädchen und Köchin auf. Ihre gebildete Mutter führt sie in die Welt der Literatur.

Zunächst schreibt Ury zum Zeitvertreib. Später, als der Vater Bankrott anmeldet, unterhält sie die Familie. 1935 wird die 55-jährige Jüdin aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und erhält ein Schreibverbot. Kurz vor ihrem Tod lebt sie einsam und verarmt. Insgesamt 39 Bücher verfasst Else Ury und zahlreiche Erzählungen
Aleksandra Lebedowicz

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