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Auf den 6000 Quadratmetern des Flughafenhangars inszeniert Tobias Kratzer eindrucksvoll die Oper „Das Floß der Medusa“.

© Jaro Suffner/JARO SUFFNER

Komische Oper im Flughafen Tempelhof: Requiem für die Verdammten des Wassers

Die Komische Oper feiert ein Gastspiel im Flughafen Tempelhof. Regisseur Tobias Kratzer inszeniert Hans Werner Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“ spektakulär.

Sehr nass wird es eigentlich nicht auf den Zuschauertribünen im weiträumigen Hangar 1 im Flughafen Tempelhof. Das riesige Wasserbecken befindet sich in angemessenem Abstand von den ausverkauften Rängen. Und es wird auch nicht geplanscht oder provokativ ins Auditorium gespritzt, wie bei früheren „Wasseropern“ beliebt.

Eher betritt man den Pool gemessenen Schritts, schwimmt ein Stückchen, klettert auf das am Rand dümpelnde Holzbrett, das titelgebende Floß der Medusa. Aber die Chorsolist:innen der Komischen Oper und des Vocalconsorts Berlin mischen sich immer wieder unter die Zuhörenden, hüllen sie ein in gleißende, ätherische, aufschreiende Stimmklänge. Da tropft es natürlich manchmal aus der schwarzen Trauerkleidung.

Glanzvolle Auswärts-Premiere

Mit dem szenisch aufbereiteten Oratorium „Das Floß der Medusa“ von Hans Werner Henze hat sich die Komische Oper Berlin eine glanzvolle erste Premiere dieser Spielzeit verschafft – die erste auch nach dem Auszug aus ihrem Domizil in der Behrensstraße. Sinnigerweise zeigt sie, dass Heimatlosigkeit eine Chance sein kann, ein Ausnahmezustand auch ungeahnte Kräfte freisetzt. Denn ein solches Spektakel auf der Riesenbühne, das jede Menge technisches Equipment verlangt, mit gewaltigem Chor- und Orchesterapparat hätte man im Stammhaus vermutlich gar nicht stemmen können.

Im Hangar stellt sich auf Anhieb eine surreale Atmosphäre ein – und auch eine sehr realistische. Regisseur Tobias Kratzer lässt auf besagten Holzplanken Théodore Gericaults berühmtes Gemälde „Das Floß der Medusa“ fast detailgetreu als Tableau vivant nachstellen. Es löst sich erst, als Charon, der Fährmann ins Totenreich, im roten Schlauchboot und mit Sicherheitsweste hereinfährt und die Geschichte zu erzählen beginnt. Idunnu Münch versieht sie mit messerscharfer Diktion, was auch bitter ist nötig in dieser Badewannenakustik: mal nüchtern berichtend, mal im emotionalisierenden Sprechgesang.

Gericaults Gemälde ist keine verherrlichende Historienmalerei, sondern beschreibt ein realistisches Sujet: Im Jahr 1816 begab sich die französische Fregatte „Méduse“ auf Expedition nach Westafrika, um die dortigen Kolonien den Engländern zu entreißen. Sie kenterte vor der Küste Senegals. Während sich Kapitän und Offiziere die verfügbaren Rettungsboote zunutze machten, blieb den „gewöhnlichen“ Passagieren nur ein notdürftig zusammengezimmertes Floß, auf dem die meisten den Tod fanden.

Anklage gegen den Kapitalismus

Der Bericht zweier Überlebender war die Grundlage für das Libretto Ernst Schnabels, der jedoch auch den Toten eine Stimme gibt: mit Passagen aus Dante Alighieris „Göttlicher Komödie“, in italienischer Sprache. Henze und Schnabel verstehen die Historie als Anklage gegen den Kapitalismus; der Komponist widmete sein Werk dem kurz zuvor ermordeten Ernesto Che Guevara.

Auf den 6000 Quadratmetern des Flughafenhangars inszeniert Tobias Kratzer eindrucksvoll die Oper „Das Floß der Medusa“.
Auf den 6000 Quadratmetern des Flughafenhangars inszeniert Tobias Kratzer eindrucksvoll die Oper „Das Floß der Medusa“.

© dpa/Carla Benkö

Das hinderte eine Gruppe protestierender Studenten nicht, die Uraufführung 1968 in Hamburg zu stürmen, ein Porträt des Widmungsträgers nebst roter Fahne zu entrollen und Henze des „Salonkommunismus“ zu bezichtigen. Es kam zum handfesten Skandal.

Bei Tobias Kratzer ist die rote Fahne nur noch ein winzig kleiner Wimpel, mit dem sich die Überlebenden der rettenden Brigg „Argus“ bemerkbar machen. Der Regisseur widersteht der Versuchung vordergründiger Gesellschaftskritik oder Aktualisierungen à la Lampedusa.

Kampf um Ressourcen auf engstem Raum

Zeitlos und vergleichsweise diskret spielt sich sein Drama ab, in dem immerhin eine zunehmende Barbarei, von quälendem Durst, Wahnvorstellungen, Meuterei um das letzte Wasserfass bis hin zu Mord und Kannibalismus zu beobachten ist.

Zum Kampf um Ressourcen auf engstem Raum gelingen Kratzer und seinem Ausstatter Rainer Sellmaier eindrucksvolle Bilder. Da findet zunächst eine fröhliche Pool-Party mit bunten Rettungsringen und Plastikpalmen statt. Doch dann durchtrennt ein Axthieb das Seil zwischen Rettungsboot und Floß.

Zur schwarzen Sonne gleißt der weiße Horizont (Licht: Olaf Freese). Der Wahn erreicht seinen Höhepunkt, als einer Jesusgestalt Stege in den Pool gebaut werden – so lässt sich’s übers Wasser wandeln. Eine Idee, so simpel wie entlarvend.

Gloria Rehm ist „La Mort“, die Todesgöttin, die mit verführerischen Soprangirlanden die Sterbenden zu sich lockt. Mit Günther Papendell, der mit warmem Bariton den Matrosen Jean-Charles spielt, vereinigt sie sich – als aus der Masse herausragendes Individuum – zum poetischen Pas de Deux, dem dieser zunächst jedoch widersteht. Doch zwei Knaben waten, sich zu lieblichem Terzgesang an den Händen haltend, als erste zu ihr.

Überhaupt lässt Henze die Toten, die sich zum Orchester gesellen, zu weichen Streichern viel konventioneller, retrospektiver singen als die Lebenden. Die wiederum bedenkt er mit scharfkantigen Bläsersätzen und weitgespannter Zwölftönigkeit. Titus Engel leitet das Riesenorchester der Komischen Oper mit beweglichem, exotisch bestücktem Schlagwerk beeindruckend souverän, höchst expressiv und sogar transparent.

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