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Im „Vinyl Berlin“  treffen sich die von Hans Neubauer (re.) beschriebenen „Männer aus Moabit“ besonders gern.  Im Hintergrund sitzt Joachim Wehr, Betreiber des Plattenladens in der Oldenburger Straße.

© Andreas Conrad

Philosophie im Plattenladen: In 66 Miniaturen porträtiert Hans Neubauer „Männer aus Moabit“

Offenheit, Wärme und Hilfsbereitschaft, kurz: gute Nachbarschaft – das hat der Autor in der Gegend um die Turmstraße immer wieder erlebt und in einem feinen Buch beschrieben. Ein Ortsbesuch.

Hegel und Schopenhauer, die konnten nun mal nicht miteinander. Die Gedankengebäude des älteren Kollegen an der Berliner Universität verspottete der philosophische Newcomer als „Hegelei“, hielt seine Vorlesungen zeitgleich zu denen des umschwärmten akademischen Konkurrenten, hoffte so, ihm Zuhörer abzuwerben – vergebens: Schopenhauer blieb Minderheitenprogramm.

Mit solchen Eifersüchteleien in der hiesigen Geistesgeschichte lassen sich gut Philosophieseminare aufmöbeln. Aber erwartet man dergleichen als Gesprächsstoff in einem kleinen Moabiter Plattenladen, umgeben von Kisten voller Langspielplatten, mannshohen CD-Regalen und historischem Hifi-Equipment? Und doch hat sich jetzt hier in den Räumen von „Vinyl Berlin“, etwas versteckt in einem ruhigen Nebenstrang der Turmstraße gelegen, eine lebhafte philosophiegeschichtliche Debatte entzündet.

Rock’n’Roll und Idealismus

Die beiden einander nicht grünen Denker hat P. ins Gespräch eingebracht, selbst erklärter Hegelianer, der plötzlich in den Laden geschneit war, mit Lust auf eine kluge Plauderei und ein stets dort wartendes Bier. Ein zweiter in der Runde – war es nicht H.? – hat zu Marx übergelenkt, der bekanntlich Hegel „vom Kopf auf die Füße“ stellen wollte. J. mischt sich mit einigen, die geistigen Höhenflüge wieder erdenden Kommentaren ein, schenkt als Gastgeber des kleinen spontanen Debattierklubs nebenbei Wein nach, freut sich wohl noch über den kurz zuvor gelungenen Verkauf eines Plattenspielers samt einiger LPs, Tom Petty beispielsweise – Rock’n’Roll und deutscher Idealismus schließen sich hier nicht aus.

Ja, es scheint nun fast so, als sei das jüngst von H. vorgelegte Büchlein „Männer aus Moabit“ plötzlich in die Wirklichkeit getreten, als sei eine seiner 66 Miniaturen die Blaupause für diesen Nachmittag im „Vinyl Berlin“. Und dabei war es doch umgekehrt, sind die kurzen Texte keineswegs Dichtung statt Wahrheit, vielmehr verdichtete Wirklichkeit, von H. erlebte und notierte Realitätssplitter aus dem Leben der Männer aus Moabit. Na gut, ein paar Frauen sind gelegentlich auch dabei.

Aber der Reihe nach, und damit ist es auch Zeit, das Versteckspiel mit den Initialen, wie es im Buch aus Gründen der Diskretion zelebriert wird, zumindest teilweise aufzugeben. Hinter J. also verbirgt sich Joachim Wehr, der Betreiber des Plattenladens, in dem sich die Runde der „Männer aus Moabit“ bevorzugt trifft, „in dem niemand regelmäßig ist, zu dem aber alle regelmäßig wiederkommen“. So erzählt es H., hinter dem – im Buch teilt er sich das Initial mit anderen – der Autor Hans Neubauer steht, ein Mann mit jahrzehntelanger Moabit-Erfahrung, Professor für gattungsübergreifendes Erzählen an der Filmuniversität Babelsberg „Konrad Wolf“, dort unter dem kompletten Vornamen Hans-Joachim.

Zu den Stationen seines Berufsweges gehören fünf Jahre als Redakteur von „Christ und Welt“, ursprünglich eine evangelische Wochenzeitung, seit 2010 eine Beilage der „Zeit“. Neubauer war in der Gruppe, die das neue Produkt entwickelte, und in der ersten Ausgabe klaffte eine Lücke für eine Kolumne. Ob er die nicht füllen könne? Ergebnis war der erste von rund 40 in lockerer Folge entstandenen Texten unter dem Titel „Männer aus Moabit“.

Auch das ist Moabit: das Kriminalgericht  in der Turmstraße.
Auch das ist Moabit: das Kriminalgericht in der Turmstraße.

© imago/CHROMORANGE

Sie findet sich im Buch wieder, für das die Kolumnen überarbeitet und um neue ergänzt wurden. Diese trägt den Titel „Allein“: Zehn Zeilen nur, über einen K., der den Kumpels erst freudestrahlend mitteilt, bei seiner Freundin sei nach ihrem Aneurysma alles wieder in Ordnung. Drei Tage später ist sie tot, wie er der Männerrunde kurz mitteilt, bevor er geht. „Die anderen bleiben, wo sie sind. D. hebt sein Glas. ,Sie war eine tolle Frau’, sagt er, ,aber das Wichtigste ist: Er ist nicht allein. Und das weiß er.’“

Eine typische Szene: Offenheit, Solidarität, menschliche Wärme, Hilfsbereitschaft, sei es bei emotionalen Nöten oder beim Reifenwechsel – kurz: gute Nachbarschaft, das ist es, was Neubauer in dem Plattenladen und an ihren anderen Treffpunkten immer wieder erlebt hat.

Hauptsache tolerant

Doch handelt es sich durchaus nicht um eine homogene Gemeinschaft, vielmehr um einen sozialen Schmelztiegel im besten Sinne, „hochdivers“, wie Neubauer es nennt: ein bunter Mix der Nationalitäten und Religionen, eine lockere Runde, versehen „mit Minijobs und Mutterwitz, als Selbständiger, Rentner oder Habilitierter, mit Stütze oder Schwarzarbeit, als Angestellter, Student oder Weltweiser, mit Doktortitel oder Meisterbrief“.

Sicher geht es bei den Gesprächen auch kontrovers zu, aber nie feindselig, sei doch der Plattenladen „einer der tolerantesten Flecken in Berlin“. Man rede dort miteinander, „darauf kommt es an, und dann ist alles möglich“.

Daumenkino mit Bierflasche

Klar, Alkohol gehört dazu, ein im Buch eingefügtes Daumenkino übers Öffnen einer Bierflasche deutet es an. Aber noch wichtiger ist wohl die Rolle von Joachim Wehr als Katalysator der in seinem Laden blühenden Gesprächskultur, hat er doch, wie Neubauer schreibt, „ein Herz für seine Gäste, die wachen wie die wirren“, greift aber auch ein, wenn – wie es dem Autor in einer Kneipe widerfahren ist – ein rabiater Riese einen Gast mit einem Bierglas malträtieren will: „Doch da ist J. zur Stelle. ,Mensch!’ Er umarmt denWütenden. ,Wir haben uns ja ewig nicht gesehen.’ Großes Hallo, die beiden gehen beiseite, das Glas steht wieder auf dem Tresen.“

Trotz solcher Zwischenfälle erscheint die beschriebene Moabiter Welt Neubauer geradezu als eine Insel, nicht der Seligen, aber doch einer Gemeinschaft, in der noch ein Sinn für Form bestehe, ein Konsens über die anerkannten Regeln des Zusammenlebens: „Man weiß sich zu benehmen.“

Eine Insel freilich, die durch natürlichen Wandel und Gentrifizierung dem Verschwinden geweiht sei. Doch sei das Buch „kein Abgesang und auch kein melancholisches Denkmal, sondern das Porträt einer Zeit, von der wir einmal sagen werden, dass es unsere war.“

Wobei schon der immer wieder aufleuchtende Humor mögliche Wehmutsanfälle verhindert. Man lacht dann über die Komik der Situation, den trockenen, vielleicht sogar unbewussten Witz der auftretenden Moabiter, lacht sie aber nie aus. Immer behalten sie bei Neubauer ihre Würde, haben schon daher seine im „Vinyl Berlin“ ausgehängten und lebhaft diskutierten Kolumnen stets begrüßt und ihn in seiner Arbeit bestärkt, was gelegentliche, mehr scherzhafte Einwände („Das habe ich nie gesagt!“) nicht ausschließt.

So dürfte sich auch P. über die ihm und Hegel gewidmeten Zeilen kaum beschwert haben. Darin versucht er seinem Gegenüber M. das Denken seines Idols zu erklären, wie also Allgemeines und Besonderes zusammenhängen: „Ist ganz einfach.“ Aber er mag das an einer Jacke, einem Auto, einer Postkutsche erläutern, M. kapiert es nicht: „Sag ich ja, ist mir echt zu schwierig.“

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