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Kopf und Herz. Michelle Obama beim Parteitag der Demokraten am 25. Juli in Philadelphia. Foto: Andrew Gombert/dpa

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Politik und Populismus: Über Wunder und Gefahr des Charisma

Erdogan, Merkel, Trump – und Michelle Obama: Es gibt gefährliche und großartige Seiten des Charismas. Über die Ausstrahlungskraft von Politikern in Zeiten des Populismus.

Wer strahlt da wie und was aus? Angesichts der akuten Erfolge außerparlamentarischer oder in Verbindung mit neuen Parteien demagogisch-populistisch agierender Strömungen kehrt heute die alte Frage nach dem Charisma zurück in die Politik.

Charisma galt ursprünglich als menschliche Gottesgabe, der mit ihr Ausgestattete war ein „begnadetes“ Talent. Inzwischen grassiert das Lobwort schon ziemlich gedankenlos, wir sind umgeben von „begnadeten“ Künstlern und Stars. Nur begnadete Politiker gibt es offenbar immer weniger, und Charisma steht hier erst mal unter Verdacht. Zumindest in Deutschland. Freilich hegen wohl nicht wenige noch immer oder schon wieder die geheime Sehnsucht nach dem charismatischen Führer, von dem der österreichische Schriftsteller Hermann Broch bereits vor 1933 in seinem zeitdiagnostischen Großroman „Die Schlafwandler“ gesprochen hatte. Broch, dessen Titel sich der britische Historiker Christopher Clark erst jüngst für sein Werk über die Entstehung des Ersten Weltkriegs entliehen hat, konnte 1938 noch mithilfe von James Joyce, Thomas Mann und Albert Einstein in die USA emigrieren.

Das Phänomen Trump: Das schreiend Vulgäre ist wieder en vogue

Ein offen bekundetes Bedürfnis nach politischer (Ver-)Führerschaft schien in Deutschland, ja in Europa lange Zeit eine Sache der Vergangenheit zu sein. Hitler oder Mussolini waren charismatische Politiker, auch wenn den meisten Nachgeborenen die Wirkung von so viel schreiendem Pomp und Pathos kaum mehr verständlich erschien. Hitler wirkte zudem – schon für eine gebildete, kultiviertere Schicht seiner Zeit – zu ordinär.

Genau das ursprünglich Ordinäre oder gar schreiend Vulgäre aber ist heute in gewandeltem Outfit wieder im Schwange. Das reicht von den einstmals nur unter Seeleuten, Zuhältern, Strafgefangenen und Prostituierten gängigen Tätowierungen bis zu den unübersehbar vielfältigen Entblößungen im Internet. Bis hin auch: zum Ton politischer Hatemails oder populistischer Reden, etwa eines neureichen Politparvenüs, der in den USA gerne Präsident werden möchte.

So wird gelegentlich eine Vision als hypothetisches Menetekel beschworen: Was geschähe mit dem zerfasernden Europa und dem verunsicherten Westen, wenn die Neuen Rechten, wenn auch in Deutschland die AfD oder Pegida einen richtig charismatischen Anführer hätten? Eine Persönlichkeit mit Ausstrahlung, Mann oder Frau, die außergewöhnliche Redebegabung, Schlagfertigkeit und so etwas wie dämonischen Charme besäße.

Frauke Petry, Oran, Le Pen, die neuen Rechtspopulisten in Europa: nicht charismatisch

Frauke Petry, der manierierte Provinzpathetiker Höcke oder der alte Gauland fallen gewiss nicht in diese Kategorie; nicht einmal Marine Le Pen oder Viktor Orbán, nicht die Führer der italienischen Lega Nord (schon eher: der autoritäre, zugleich linksradikale wie basisrechte Exkomiker Beppe Grillo von den „Fünf Sternen“); nicht die griechischen Neofaschisten, nicht Polens PiS-Parteileute, und selbst der äußerlich smarte, redegewandte Niederländer Geert Wilders wirkt mit seiner unverhohlen eitlen Arroganz über seine engere, fremdenfeindliche Anhängerschaft hinaus kaum mehrheitsbildend.

Großbritanniens vermeintlicher neuer Politstar Boris Johnson, der alles gleichzeitig sein wollte, demagogisch, schrullig, sympathisch und gegen die EU, aber trotzdem pro-europäisch (also: ein bisschen schwanger), er hat sich ausgerechnet durch seinen Brexit-Erfolg als Lügner und Fintenvogel entpuppt. Kein echter Charismatiker, vorerst nur ein britischer Buffo. Und Trump?

Aussitzen, Schweigen,"Wir schaffen das". Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ungarns Premier Viktor Orbán beim Flüchtlingsgipfel in Brüssel, am 25.10.2015.
Aussitzen, Schweigen,"Wir schaffen das". Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ungarns Premier Viktor Orbán beim Flüchtlingsgipfel in Brüssel, am 25.10.2015.

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Längst vorbei ist allerdings die Ansicht, dass moderne Politik in hochkomplexen globalisierten Zeiten nur noch von überpersönlichen Machinationen, von Systemen, Konzernen oder sich verselbstständigenden Konglomeraten der Finanz- und IT-Wirtschaft gemacht würde, und nicht mehr (auch) von Einzelnen. Wladimir Putin, Chinas Xi Jinping oder jetzt Erdogan in der Türkei sind Gegenbeispiele. Wie auch Donald Trump als egomaner Aufsteiger in Amerika, egal, was mit ihm noch passiert.

Deutschland, wo Angela Merkel so lange das Exempel der uncharismatischen, auf leiser Vernunft beruhenden Herrschaft war, ächzt mittlerweile unter dem Mangel an öffentlicher Darstellung und Erklärung. Die eben noch alle(s) überschwebende Kanzlerin, die nie eine große Rednerin war und es nie sein musste, sie erscheint diesen Sommer bloß noch reaktiv oder sprachlos. Merkel hatte nach dem für alle überraschenden Brexit keine Worte mehr für Europa, die über den grauen Tag hinausgewirkt hätten, und bei ihrer Flüchtlingspolitik wird die innere Logik zur sonderbar innerlichen. Die wirkliche Arbeit, das ist der Eindruck, vollzieht sich draußen, fern vom Raumschiff Kanzleramt. Und es gibt offenbar nicht einmal mehr Redenschreiber für Europas eben noch mächtigste Politikerin.

Hysterische Politik: Kluge Worte statt schrilles Überreden täte not

Keine und keiner, der Worte fände, der die Macht der Rede in Zeiten des Populismus nicht nur zum schrillen Überreden gebrauchen könnte? Der oder die dank Ausstrahlung und Überzeugungskraft vor eine in Netzwerken und auf Plätzen diffundierende Öffentlichkeit träte: mit Argumenten, die nicht bloß negieren und spalten. Und die reale oder eingebildete Ängste vor sozialem Abstieg oder eindringender Gewalt schon dadurch ernst nehmen, dass sie durch Benennung und Erklärung zwischen dem einen und dem anderen zu unterscheiden helfen.

Allemal wird mehr Vergangenheit als Zukunft beschworen. Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk hat diese Woche im „Spiegel“ die von Populisten linker wie rechter Couleur erzeugte Illusion mit einfachen Worten benannt, nicht nur im Blick auf Polen: „Wir meinen, dass das Vergangene Lösungen für das Kommende birgt. Die Welt heute ist böse, feindlich, unberechenbar und fremd. Früher war sie ganz anders. Früher haben wir die Regeln diktiert, früher hat man uns gefürchtet, man hat uns geschätzt, und es hat uns keine Invasion von Fremden gedroht, weil wir die Grenzen der Welt bestimmen konnten.“

Vor allem Helmut Schmidt und Willy Brandt galten als charismatische Redner: Der damalige Bundeskanzler mit Außenminister Genscher und dem SPD-Vorsitzenden Brandt am 13. Dezember 1976 im Bonner Bundestag.
Vor allem Helmut Schmidt und Willy Brandt galten als charismatische Redner: Der damalige Bundeskanzler mit Außenminister Genscher und dem SPD-Vorsitzenden Brandt am 13. Dezember 1976 im Bonner Bundestag.

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Stimmung gegen diese Stimmung, die schon zum Zeitgeist geworden ist, kann die reine Ratio nur noch schwerlich erzeugen. Es bräuchte schon: charismatische Vernunftpolitiker. In Deutschland fallen einem dazu als Erstes wohl die Namen von Willy Brandt und, als Rhetoriker in seinen besten Zeiten, von Helmut Schmidt ein. Aber es klingt wie ein Lied aus sehr alten Zeiten, was einer der Allerbegabtesten unter den Rhetorikern des einstigen Bonner Bundestags, Brandts Vize und früherer SPD-Fraktionsvorsitzender Fritz Erler bei Günter Gaus in einem Fernsehinterview 1965 bekundete. Ein Publikum durch die Macht der Rede zu fesseln, bedeutete für Erler statt eines „stürmischen Gefühlsausbruchs“ und der „Erzeugung von Begeisterung“ das „Zwingen zum Mitdenken“.

So etwas klingt streng. Nach Pädagogik statt Populismus. Oder emphatischer gesagt: Aufklärung pur. Für den Soziologen Max Weber, der Eitelkeit, hohle Schauspielerei und „sterile Aufgeregtheit“ in der Politik nicht schätzte, aber nicht grundsätzlich gegen „charismatische Herrschaft“ war, bedeuteten „Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß“ die hervorstechenden Qualitäten eines modernen Politikers. Und in etwa diese Trias hat jüngst Michelle Obama auf dem Nominierungskongress der amerikanischen Demokraten gegen einen Populismus ins Feld geführt, der die Probleme heutiger Weltpolitik gerne in Tweets auf „140 Zeichen eindampfen“ möchte.

Die Welt wird vulgärer? Anspruch hochhalten, sagt Michelle Obama

Michelle Obamas gut vierzehnminütige, zu Köpfen und Herzen gehende Ansprache, die auch die Reden ihres Mannes oder Bill Clintons und Hillarys Auftritte an Geist, Charme, Raffinesse übertraf, kann man (am besten vollständig) bei YouTube oder als CNN-Mitschnitt im Internet nacherleben. Sie ist das brillante Beispiel, wie Charisma und Vernunft, Gefühl und Verstand zusammenwirken können. Das Phänomen Trump traf sie, ohne ihn ein einziges Mal namentlich zu nennen – und sie traf jenen Hass (ob gegen Fremde oder die eigenen Eliten), der die Gesellschaften in West und Ost inzwischen so sehr spaltet.

Michelle, ohne nur die Mom-in-Chief zu geben oder wie Trump die eigenen Kinder platt zu instrumentalisieren, erinnerte an das, was sie und ihr Mann ihren beiden Mädchen gesagt haben, wenn diese in den Medien mit der Sprache des politischen Hasses und populistischer Parolen konfrontiert wurden: „No, our motto is: When they go low we go high.“

Sieben Worte. Statt auf das Niveau der Vulgarisierung zu sinken, den eigenen Anspruch hochhalten. When they go low we go high. Ein Satz, so einfach, so klar, so schlagend. Ausgesprochen mit dem Charisma der Vernunft.

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