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An diesem Ort geht die Welt Tag und Nacht zugrunde - behauptet Jonathan Crary.

© dpa/Franziska Gabbert

Raus aus der High-Tech-Knechtschaft!: Jonathan Crary will dem Internet den Stecker ziehen

Der amerikanische Kunsttheoretiker sieht im Netz den jüngsten Auswuchs kapitalistischer Umtriebe.

Vor zehn Jahren sorgte Angela Merkel für Heiterkeit mit ihrem Satz, das Internet sei „für uns alle Neuland“. Als völlig weltfremd befanden das damals all jene, die in diesem Land schon lange heimisch waren. Heute böte wohl bereits jede Aussage über „das Internet“ Gelegenheit für Spott, implizierte ein solches Sprechen doch die Existenz einer virtuellen Welt, die von der „realen“ unterschieden werden könnte. Denn eine solche Trennlinie ist nicht mehr klar zu verorten, weder auf der individuellen noch auf der gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Makro-Ebene. Zu denken, man könnte, wie anno 1999 Boris Becker, noch drin oder draußen sein, gar aus dem System aussteigen, wirkt hoffnungslos aus der Zeit gefallen.

Dementsprechend ungläubig reibt man sich bei der Lektüre des Essays „180°“ die Augen, in dem der New Yorker Kulturtheoretiker Jonathan Crary, Jahrgang 1951, vehement gegen die vermeintliche Gewissheit argumentiert, das Internet sei „gekommen, um zu bleiben“, und seine vollständige Abschaffung herbeisehnt. Crary zielt nicht nur auf die allenthalben kritisierten Auswüchse sozialer Medien, auf Überwachungspraktiken, Fake News oder eine überhitzte Kommerzialisierung, sondern meint tatsächlich das gesamte Internet. Er will den Stecker ziehen und zwar endgültig.

Denn die Medienrevolution führe ihm zufolge mitnichten zu neuen Formen von Gemeinschaft und Kooperation, sondern im Gegenteil zu Spaltung, Einsamkeit, Hass und Gewalt. Sie lasse Intimität, Gedächtnis und politische Handlungsmacht verkümmern, raube der Jugend autonome Räume und konfrontiere sie mit „süchtig machender Stimulation und und elektrolumineszenter Homogenität“.

Jegliche Verbundenheit mit der sozialen, materiellen oder natürlichen Umwelt werde den Menschen systematisch ausgetrieben, um sie ungehindert als Konsumenten und Datenlieferanten zu missbrauchen. Crary betont, dass er keine Nachteile einer an sich neutralen Infrastruktur beschreibt. Ihm zufolge ist das Internet also nicht kaputt, es funktioniere sogar ganz nach Plan.

Der Professor für Moderne Kunst nimmt in seiner Kritik Anleihen bei der Frankfurter Schule. Man hat beim Lesen den unerbittlichen Ton im Ohr, mit dem Theodor W. Adorno oder Herbert Marcuse einst die „Kulturindustrie“ geißelten.

Crary selbst spricht vom „Internetkomplex“, eine Wortwahl, die an das Schreckgespenst der US-amerikanischen Linken im Kalten Krieg gemahnt: den „militärisch-industriellen Komplex“. Der Internetkomplex tritt nun an dessen Stelle, da er den Kapitalismus noch effizienter zu befördern wisse.

Endpunkt dessen innewohnender Teleologie sei eine komplette Zerstörung der Gesellschaft wie der Natur. Jeder Klick, jeder Like, jedes Katzenvideo ist für Crary also ein Schritt hin zum Ende der Welt. Er selbst gibt sich als marxistisch geschulter Maschinenstürmer im Kampf gegen die Nutznießer auf diesem Weg in den Untergang: eine „soziopathische Milliardärsklasse“, die ihr treu ergebene Vasallen um sich schart. Jene Funktionäre aus dem Finanzsektor, den Medien, dem Design oder der Mode erfüllten die Aufgabe, Kritik am Internetkomplex zum Verstummen zu bringen, also das Volk nach den Maßgaben einer Geld-Elite zu disziplinieren.

Das klingt so paranoid wie es ist. Crary bietet eifrig Anschlussmöglichkeiten für Verschwörungstheorien, was auch daran liegt, dass Politik in seiner äußerst groben Analyse schlicht nicht vorkommt. Die Gesellschaft ist bei ihm in fester Hand einiger Oligarchen, die ihre Apps und Gadgets auf die Massen loslassen, um sie in einer „High-Tech-Knechtschaft“ zu halten. Was wäre dem schon entgegenzusetzen? Jedenfalls keine politischen Initiativen, keine Regulierung, da doch nur die komplette Abschaffung des Internets die Rettung bringen könnte.

Für den Einzelnen besteht wohl der beste Weg aus der Geiselhaft, offline zu gehen und sich – quasi im Untergrund – analog mit Gleichgesinnten zu treffen, um gemeinsam auf den Zusammenbruch des Kapitalismus zu warten. Dieser Tag X tritt ein, sobald der Ressourcenschwund der Akkumulation ein Ende setzt und damit das ganze System zusammenbricht. Crary zufolge wird das nicht mehr lange dauern, „höchstens noch ein paar Jahrzehnte“.

Optimisten sollen also auf den raschen Vollzug einer sozialen wie ökologischen Totalverwüstung hoffen. Ist das ernst zu nehmen? Um Gottes willen nein, zumindest nicht auf der inhaltlichen Ebene. Sorgen kann man sich aber dennoch, um eine linke Theorie, die sich immer öfter in apokalyptische Visionen hineinsteigert, anstatt neue glänzende Zukünfte zu entwerfen, für die es sich zu kämpfen lohnte. Das war mal ihre vornehmste Aufgabe, inzwischen geht es bestenfalls noch um die Abwendung des Schlimmsten. Eine bedenkliche Entwicklung, für die Crarys Essay ein besonders eindrückliches Beispiel bietet.

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