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Zwei Personen stehen im Oktober 2020 in Paris an der Seine, eine hat sich die Algerienflagge umgehängt. Sie erinnern an eine Demo im Oktober 1961, bei der mehrere Algerier umgebracht wurden, die gegen den Algerienkrieg demonstrierten.

© imago images/Hans Lucas

Schmerz, Erinnerung und Kampf um Wählerstimmen: 60 Jahre nach dem Ende ist der Algerienkrieg in Frankreich noch allgegenwärtig

Frankreich gedenkt am Samstag dem Ende des Algerienkriegs. Eine neue Generation stellt sich dem Erbe, das auch für Politiker relevant ist – gerade im Wahlkampf.

Mal hört man nur das Ziehen an der Zigarette, dann ein leises Schluchzen. „In dieser Zeit sind Narben entstanden, die auch wir geerbt haben“, sagt Justine. Dann bricht die Stimme der 30-jährigen Französin. „Ich bereue es, sie nicht vorher gefragt zu haben.“

In dem im Februar erschienenen Spotify-Podcast „Sauce Algérienne“ erzählt sie, wie sie die Geschichte ihrer Großeltern noch heute bewegt. Justine ist Enkelin von „pieds-noirs“ – so heißen die Franzosen, die während der Kolonialzeit in Algerien lebten und nach der Unabhängigkeit 1962 nach Frankreich umsiedeln mussten.

Am Samstag erinnert Frankreich offiziell an das Ende des Algerienkriegs vor 60 Jahren. Die Folgen des acht Jahre währenden Kriegs sind bis heute allgegenwärtig. Das betrifft nicht nur die Menschen, die auf unterschiedlichen Seiten an dem Konflikt beteiligt waren und inzwischen in einem hohen Alter sind. Es betrifft auch die Jungen: 39 Prozent der Französinnen und Franzosen zwischen 18 und 25 haben einen familiären Bezug zu Algerien.

Nicht nur privat, sondern auch politisch ist die gemeinsame Geschichte beider Länder immer noch ein wichtiger Referenzpunkt, insbesondere im Wahlkampf. Es geht um die Deutung der Geschichte – es geht aber auch um Wählerstimmen. Die beteiligten Gruppen und ihre Nachfahren stellen immer noch einen wichtigen Teil potenzieller Wähler.

Ein Krieg, der keiner sein sollte

Doch warum ist das Thema weiterhin so heikel? Algerien hatte seit der Eroberung 1830 in der Konzeption der Kolonialmacht Frankreichs immer eine besondere Rolle gespielt: Es wurde nicht als Kolonie angesehen, sondern als integraler Bestandteil Frankreichs selbst. Als die algerische „Nationale Befreiungsfront“ 1954 mit dem bewaffneten Kampf begann, wollte Frankreich auch deswegen die Unabhängigkeit um jeden Preis verhindern.

Und obwohl der Krieg acht Jahre währte und sich ab 1956 ständig etwa 400.000 französische Wehrpflichtige in Algerien befanden, sprach Frankreich lediglich von militärischen Operationen in Nordafrika. Diese Operationen als das zu bezeichnen, was sie waren, hätte nach der eigenen Logik bedeutet, von einem Bürgerkrieg zu sprechen. Erst 1999 erkannte Frankreich die Ereignisse offiziell als Krieg an.

Emmanuel Macron hat die Erinnerung an die gemeinsame Geschichte mit Algerien zu einem wichtigen Thema seiner Amtszeit gemacht. Schon im Wahlkampf 2017 deutete sich das an: Bei einer Reise nach Algerien bezeichnete er die Kolonialisierung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ – eine Formulierung, die bis heute die politische Rechte in Frankreich in Rage bringt.

Zu viel Reue?

Als Präsident beauftragte Macron den Historiker Benjamin Stora, der als Koryphäe auf dem Gebiet gilt, mit einem Bericht, der Vorschläge zur zukünftigen Erinnerung an die Kolonialisierung und den Algerienkrieg enthalten sollte.

Beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit französisch-algerischer Geschichte: Historiker Benjamin Stora.

© imago images/PanoramiC/MichaelBaucher

Insbesondere die rechten Kandidaten grenzen sich im Wahlkampf von dieser Linie ab: Die konservative Präsidentschaftskandidatin Valérie Pécresse warf Macron in ihrer bislang größten Wahlkampfrede am 13. Februar vor, zu viel „Reue“ gezeigt zu haben – Frankreich habe keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, sagte sie.

Der rechtsextreme Éric Zemmour, der selbst algerischer Herkunft ist, verfolgt eine gänzlich revisionistische Lesart der Geschichte. Das gilt nicht nur für Algerien, sondern etwa auch für die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Mehrere französische Historiker wählten deswegen den ungewöhnlichen Schritt, wenige Woche vor den Präsidentschaftswahlen das Traktat „Zemmour gegen die Geschichte“ zu veröffentlichen. Darin wiederlegen sie auch mehrere seiner Aussagen zu Algerien.

So ist Zemmour etwa der Meinung, Algerien sei erst durch die Kolonialisierung Frankreichs entstanden – eine Annahme, die der geschichtswissenschaftlichen Betrachtung nicht Stand hält.

Mit seinen Ansichten könnte Zemmour allerdings für eine Wählerschaft interessant sein, die bislang eine wichtige Unterstützerbasis von Marine Le Pen war: Viele der im Süden Frankreichs lebenden „pieds-noirs“ – also der Franzosen, die zum Teil mehrere Generationen in Algerien lebten und in der Regel gegen die Unabhängigkeit waren – und ihre Nachfahren wählten in der Vergangenheit rechts.

[Im April finden in Frankreich Präsidentschaftswahlen statt. Wer sind die wichtigsten Kandidaten? Und was wollen sie politisch? Lesen Sie hier den Überblick auf Tagesspiegel Plus.]

Nach einer Studie des Meinungsforschungsinstituts ifop von 2014 fielen in Regionen mit hohem Anteil von „pieds-noirs“ und ihren Nachfahren die Ergebnisse für die rechte Partei Le Pens im Schnitt zehn Prozent höher aus als in anderen Regionen. Zemmour dürfte auf Stimmen aus diesem Lager hoffen.

Präsident Macron hat am Samstag 200 Gäste in Élysée geladen, um an den Krieg und die Verträge von Evian zu erinnern, mit deren Unterzeichnung die Auseinandersetzungen am 18. März vor 60 Jahren endete. Seine Rede wird sich in eine Linie stellen mit vorherigen Bemühungen: Dabei hat er versucht, die unterschiedlichen beteiligten Gruppen anzusprechen und die teils kontrovers geführte öffentliche Debatte zu beruhigen.

Erst im Februar etwa hat Macron ein neues Entschädigungsgesetz für die „Harkis“ durchgesetzt – „Harkis“ sind die Algerier, die während des Krieges für die Franzosen arbeiteten und kämpften. Nach 1962 musste sie unter teils schweren Bedingungen ein neues Leben in Frankreich beginnen.

Zuvor hat Macron eine Reihe anderer Gesten verfolgt: Vergangenen Herbst nannte er die blutige Niederschlagung einer Demonstration von Algeriern, die 1961 für die Unabhängigkeit in Paris auf die Straße gingen, als erster Präsident ein „unentschuldbares Verbrechen der Republik“.

Emmanuel Macron gedenkt im Herbst 2021 den algerischen Opfern von Polizeigewalt 1961 in Paris. Die Leichen wurden in die Seine geworfen.

© Rafael Yaghobzadeh/AFP

Obwohl seine Bestrebungen von vielen als weitreichend und verhältnismäßig progressiv bewertet werden, gibt es auch Kritik. „Macrons Gesten gehen nicht über eine bestimmte Logik hinaus“, sagt Historiker Paul Max Morin. Es sei eine Logik, die lediglich auf die Forderungen unterschiedlicher Opfergruppen reagiere.

„Was fehlt, ist eine Debatte, die sich nicht nur an die ehemaligen Beteiligten richtet, sondern die gesamte Gesellschaft miteinbezieht“, sagt er. Denn die Geschichte mit Algerien sei eng mit der französischen Identität verbunden. „Sie beeinflusst zum Beispiel, was wir über uns selbst erzählen und wie wir über Muslime und Juden sprechen.“ Anfang März ist Morins Buch „Die Jungen und der Algerienkrieg“ erschienen, in dem er aufzeigt, wie eine neue Generation mit den Folgen der Vergangenheit umgeht.

Dafür hat er eine Umfrage unter 3000 jungen Französinnen und Franzosen durchgeführt und über 70 Interviews mit Enkelkindern von damaligen Wehrpflichtigen, Pieds-Noirs, Harkis, jüdischen Algeriern algerischen Freiheitskämpfern und militanten Gegnern der Unabhängigkeit geführt. Sechs von ihnen kommen in „Sauce Algérienne“ zu Wort, der im Februar zeitweise zu den drei meistgehörtesten Spotify-Podcasts in Frankreich gehörte.

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Bei seinen Gesprächen hat der 34-jährige Morin vor allem zwei Gefühle bei den Enkeln der Beteiligten wahrgenommen: Ein großes Unwohlsein, weil viele nur wenig über das Geschehene wissen, aber auch eine große Neugierde. „Der Umgang ist gerade dabei, sich zu wandeln“, sagt er. Es sei inzwischen möglich, die individuellen Geschichten in aller Komplexität zu erzählen.

Er sieht aber auch eine Leerstelle: Es werde inzwischen viel an den Krieg erinnert, nicht aber über die Kolonialisierung gesprochen. Das Thema ist auch heikel, weil es die Aktualität direkt berührt: Zu Frankreich gehören immer noch viele Überseegebiete. Auf der Insel Korsika gibt es derzeit neue Unruhen, nachdem ein Vertreter der dortigen Unabhängigkeitsbewegung im Gefängnis von einem Mithäftling schwer verletzt wurde.

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Sollte Macron wiedergewählt werden, wird er seine erinnerungspolitische Agenda wohl weiter vorantreiben: Seit der Veröffentlichung des Berichts von Historiker Stora Anfang 2021 arbeitet im Élysée eine Kommission, die sich mit der Erinnerung an die Kolonialisierung und den Algerienkrieg beschäftigt.

Dabei ist auch das Projekt eines Museums der gemeinsamen Geschichte Algeriens und Frankreichs, das in Montpellier entstehen soll, wieder aufgenommen worden. Das Projekt wurde 2014 eingestampft – zu unterschiedlich waren die Vorstellungen.

Historiker Morin fordert für die Zukunft die Gründung einer Stiftung, die sich der Erinnerung des Algerienkriegs widmet. Außerdem wünscht er sich eine Art französisch-algerisches Jugendwerk – so wie etwa nach dem französisch-deutschen Vorbild. „Das würde uns ermöglichen, die Geschichte gemeinsam aufzuarbeiten“, sagt er. Justine, die er für seinen Podcast interviewt hat, hat ihren eigenen Umgang gefunden: Sie hat Gespräche mit ihrer Oma aufgenommen – und erzählt die Geschichte ihrer Familie nun weiter.

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