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Die französische Schriftstellerin Mariette Navarro

© Antje Kunstmann Verlag

Stahl, Fleisch und Fluten: Mariette Navarros Romandebüt „Über die See“

Die französische Schriftstellerin hat ein federleichtes und aufregendes Buch geschrieben - und erweist sich als hellwache und sensible Erzählerin.

Diese Szene wird sicher in Erinnerung bleiben: Die Mannschaft eines Containerschiffs lässt ein Rettungsboot hinab, um mitten auf dem Atlantik baden zu gehen. Kilometer an Wasser unter sich, planschen sie auf hoher See, während an Deck einzig die Kapitänin zurückbleibt. Es ist ein großes, ein großartiges Bild, mit dem Mariette Navarro ihr Romandebüt „Über die See“ einleitet.

Aber es ist auch gewagt, weckt es doch Assoziationen zu Geflüchteten in Seenot. Auch sie schieben alle Gedanken an Sicherheit beiseite, während die an Grenzen äußerste Dringlichkeit einfordern. Die Route ihrer Boote führt für gewöhnlich aus dem Süden in den Norden, in umgekehrter Richtung also als die der Matrosen, die sich hier aus reiner Abenteuerlust für einen Augenblick der Gefahr auszusetzen, um in den Wellen neu geboren zu werden.

Ist es opportun mit diesem Bild zu arbeiten, es als Ausgang einer Geschichte zu nutzen, die durchaus existenzielle Themen behandelt, nicht aber im Sinne einer Flucht vor Verfolgung oder Armut, sondern eher eines Auszugs aus seelischer Unbehaustheit? Zumindest lässt die Autorin hier kaum Gespür dafür erkennen, dass ihr Bild eben nicht ihr Bild ist, dass es nicht neu und bar jeder Bedeutung zu haben ist.

Sensible, hellwache Erzählerin

Das überrascht, weil Navarro sich ansonsten als sensible und hellwache Erzählerin erweist. Von Sophie Beese konzentriert aus dem Französischen übersetzt, funkelt und flirrt ihre Prosa zwischen einer Vielzahl Vorbilder und Themen. Anleihen bei feministischen Klassikern scheinen ebenso durch wie Herman Melville, der mit seinem Moby Dick das Verhältnis des Menschen zum Tier, von Technik und Natur verhandelte. In „Über die See“ vollziehen sich nun ganz neue Verbindungen zwischen Stahl, Fleisch und Fluten, wird der Kampf zur Ménage à trois, bei der niemand mehr sicher sein darf, in welcher Ecke er steht.

Nachdem die Männer von ihrem Badeausflug zurückgekehrt sind, führt das Schiff ein Eigenleben. Es fährt immer langsamer, dann plötzlich schneller, sein Motor komponiert ein Stück, den Takt spürt die Kapitänin als Herzschlag und kann ihn kaum noch vom eigenen unterscheiden. Wer mag, darf hier Bezüge zu einer Literatur des Anthropozäns entdecken, die sich mit der Frage befasst, wie auf die Gewissheit zu reagieren ist, als Mensch der maßgebliche Faktor dieses Planeten zu sein. Navarro antwortet erst mit sanftem Spott – wie klein und kindisch die Matrosen auf der Oberfläche des Ozeans dahintreiben –, woraufhin sich eine Melancholie einschleicht: Die Einsamkeit jener Spezies, die schwer am Gewicht der Krone der Schöpfung trägt, dem sie das Kinn hinabsinken lässt in die steigenden Wasserspiegel.

Doch nun ändert der Weltenlauf seinen Kurs. Nicht nur lässt sich das Schiff nicht mehr kontrollieren, ein rätselhafter Nebel kommt auf und die Kapitänin entdeckt einen Blinden Passagier. Ein geheimnisvoller Mann mit blassen Augen hat sich eingeschlichen, er verspricht Unheil, ist womöglich der Tod selbst. Muss, der Legende der Iphigenie folgend, ein Opfer gebracht werden, um den sicheren Hafen zu erreichen? Bei aller literarischen Ambition, die Navarro walten lässt, ist ihr Roman auch schlicht spannend, er orientiert sich am Mythos gleichermaßen wie am Thriller. Man fragt sich, ob dieses Buch nicht dem nahe käme, was ein Regisseur wie Terrence Malick aus dem dümmlichen Skript des Films Speed II gezaubert hätte.

Ohne falsche Bescheidenheit teilt Navarro zu Beginn die Menschheit in drei Gruppen: Es gebe nur die Lebenden, die Toten und die Seefahrer. „Tief in ihrem Inneren wissen sie bereits, zu welcher Kategorie sie gehören, das ist keine wirkliche Überraschung, keine wirkliche Erkenntnis.“ Zumindest der zweite Teil dieser Bestimmung ist fragwürdig, führt der Roman all seine Themen und Motive doch im späteren Verlauf enger und steuert auf die Erzählung einer Identitätskrise hin.

Offenbar spielen Natur und Technik hier verrückt, weil der Mensch, in diesem Fall die Kapitänin, nicht in der richtigen Kategorie steckt. Dabei dachte sie stets, sie wäre für das Meer geboren. Schon ihr Vater war Kapitän. Auch er geriet auf einer Fahrt in ähnliche Schwierigkeiten, vor der argentinischen Küste verschwand sein Schiff für Wochen vom Radar. Als es endlich in den Hafen einlief, fehlte den Seemänner jede Erinnerung an ihre Irrfahrt. Der Vater der Kapitänin erholte sich nie von dem Schock, er verstummte, gab seinen Beruf auf und starb bald darauf. Einiges spricht dafür, dass er in jenen Tagen, in denen die Zeit still stand, eine Wahrheit über sich selbst erfahren hat. Eine solche, die nun auch auf seine Tochter wartet – und leider auch auf die Leserschaft.

Denn dieser über die längste Strecke so federleichte wie aufregende Roman gehört auch zu jenen, die man besser nicht beendet, deren Größe und Schönheit sich nicht in der Auflösung einer Handlung zu erkennen geben, sondern in der Schwebe, im Geheimnis.

Es sei empfohlen, höchstens bis zur 137. Seite zu lesen. Danach bricht nicht nur der Nebel über der See wieder auf, die Kapitänin muss auch noch rasch eine Liebschaft und ihr Glück an Land finden. Sehr simpel und hastig werden nun all die losen Enden der Existenz vertäut. Lieber als so von Bord zu gehen, würde man mit dem Geisterschiff weiterfahren, dem Rhythmus seines Herzschlags lauschen und versuchsweise einen Zeh in den Ozean strecken.

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