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Luftalarm in der Metro in der ukrainischen Hauptstadt Kiew.

© dpa/Kay Nietfeld

Ukrainisches Kriegstagebuch (112): Es müssen noch so viele Geschichten erzählt werden!

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

21.2.2023

Es muss im Mai 2011 gewesen sein, ein angenehmer, warmer Tag in Kiew. Am Abend zuvor hatte ich einen Auftritt mit dem Duo Mama Diaspora. Beim Konzert floss Cognac in Strömen, die Stimmung war fantastisch. Unser Publikum forderte eine Zugabe und dann noch eine, wir hatten aber keine weiteren Lieder geschrieben. Also spielten wir immer wieder die gleichen, und alle waren glücklich.

„Ich habe noch nie im Leben so viele Leichen gesehen.“

Am nächsten Tag kamen wir nachmittags wieder zurück, um unser Zeug abzuholen – und blieben auf einen Drink. Der Tisch draußen war frei, das Wetter weiterhin gut.

Der Kneipenklub Kupidon liegt unweit von Chreschtschatyk, der zentralen Straße Kiews. Dort versammeln sich seit den frühen neunziger Jahren Autor*innen und Journalist*innen. Neben der Bar gibt es noch einen kleinen Laden mit alten Büchern. Hier kaufte ich mir seinerzeit einen dicken Band mit chassidischen Märchen und auch ein winziges Büchlein von Skovoroda

Wir wurden immer mehr, und plötzlich schloss sich Dmytro Kurovskiy von der Band Foa Hoka uns an. Mit ihm kam Evgen Hodosh von Kazma Kazma. Was für eine Überraschung! Denn eigentlich wohnt Dmytro in Tschernihiw und Evgen in Charkiw; beide waren zufällig in Kiew.

Unerwartet lief Sergiy Fomenko von Mandry an unseren Tisch vorbei. Ich kannte seine Musik, sah ihn aber erstmals persönlich. Irgendwann hielt ein Auto und die ukrainische Folkpunk-Legende Oleg Skrypka stieg aus. Er begrüßte uns und verschwand wieder. „Wenn du hier lang genug sitzen bleibst, siehst du alle, einfach alle!”, meinte jemand am Tisch.

Skrypka war letztes Jahr in Berlin auf Tour, ich habe ihn leider verpasst. Auf dieser Tour sammelte er wie gerade alle ukrainischen Musiker Spenden für die Heimat. Sein Gitarrist Jevgen Rogatschevskij kämpft an der Front, neben seinem zwanzigjährigen Sohn.

Fomenko wiederum war monatelang bei der Territorialverteidigung. Als wir uns im Herbst in Straßburg trafen, berichtete er, er sei unter den ersten gewesen, die Butscha nach der Okkupation der Stadt durch die Russen betraten: „Ich habe noch nie im Leben so viele Leichen gesehen.“

Kurovskiy und Hodosh hatten im September ein Konzert in Berlin. Ihre Familien haben sie seit Monaten nicht gesehen, erzählten sie mir. Ihre Frauen und Kinder verließen die Ukraine in den ersten Wochen der Großen Invasion. Auch Tschernihiw war von den Russen besetzt. Kurovskij blieb die ganze Zeit in der Stadt. Hodosh war in Charkiw und erlebte täglich die russischen Bombenangriffe. Ich kann mich an ein Facebook-Foto von ihm erinnern. Darauf sah man Dutzende auf dem Fensterbrett gestapelte Bücher und Schallplatten, für den Fall, dass die Fenster beim Bombenangriff brechen sollten…

Ein Jahr Krieg – und hunderttausende von Geschichten, die erzählt werden müssen. Auch nach einem Jahr dürfen wir nicht vergessen, dass Russland nicht aufhören wird! Deswegen braucht die Ukraine nach wie vor unsere Unterstützung und Solidarität. Wir müssen diesen Krieg gewinnen – und das werden wir!

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