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„Foskstroty“ im Waschhaus Potsdam.

© Nadine Lange

Ukrainisches Kriegstagebuch (148): Die ausgelöschten Stimmen hörbar machen

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

1.7.2023
Es mag verrückt klingen, aber ich werde es trotzdem sagen: Ich fühle, dass „Foskstroty“ mich nun schon seit anderthalb Jahren verfolgen. In meiner 25-jährigen Musikerkarriere habe ich noch kein anderes Album aufgenommen und keinen anderen Song geschrieben, der eine solche Wirkung auf mich selbst und die Welt um mich herum hatte.

Die erste Platte, die ich gehört habe, auf der Poesie und Musik miteinander vereint wurden, stammte von The Doors. Als 17-jähriger leidenschaftlicher Doors-Fan war ich von diesem Album etwas verwirrt, weil es ganz anders klang als die Platten davor. Auf „An American Prayer“, das 1975 erschienen ist, vertonten die Musiker der Band die Texte von Jim Morrison, obwohl der Sänger bereits seit vier Jahren tot war.

Das Ergebnis klang nach einem merkwürdigen Hörspiel und erinnerte an diese zauberhaften Augenblicke, wenn man den Drehregler eines alten Radios so justiert hat, dass man zwischen den Sendern landet und plötzlich beide Programme gleichzeitig hören kann.

Ich musste sofort an „American Prayer“ denken, als ich im Frühling 2021 die Anfrage aus Kiew bekam, Musik zu den Texten von ukrainischen Autoren der 1920er zu komponieren. Ich war einerseits begeistert, aber zugleich unsicher, weil ich bis dahin keine überzeugenden musikalischen Versuche gehört hatte, die sich mit der Poesie dieser Zeit auseinandersetzen.

Viele davon erschienen mir zu pathetisch und klangen zu traurig, wofür es auch eine plausible Erklärung gab – das Leben der meisten ukrainischen Schriftsteller*innen dieser Generation endete viel zu früh, auf schreckliche und brutale Weise. Wie sonst soll ein Soundtrack zur größten Tragödie der ukrainischen Kultur des 20. Jahrhunderts klingen?

Trotz fehlendem Plan von meiner Seite sagte ich sofort zu, als ich hörte, Serhij Zhadan wäre bei dem Projekt dabei. Mit Serhij und seiner Band Sobaky habe ich schon öfter zusammengearbeitet. Wir nahmen 2016 ein gemeinsames Album auf und rockten einige Bühnen zwischen Berlin und Bachmut. Ich wusste, dass Serhij Mitte der 1990er über den ukrainischen Futurismus promoviert hatte und ihm das Thema vertraut war. Er erzählte gerne und oft von den Bewohnern des Schriftstellerhauses Slowo und zitierte bei jeder sich bietenden Gelegenheit aus ihren Texten – bereits vor 20 Jahren bei unserer allerersten Begegnung war es schon der Fall gewesen.

Yuriy Gurzhy und Serhij Zhadan im Waschhaus Potsdam.

© Nadine Lange

Wie klangen die Stimmen von Semenko, Wlyzko, Schkurupij, wie haben sie ihre Texte vorgelesen? Ich saß mit Serhij in der Künstlerresidenz im Slowo, wir haben vergeblich das Internet durchsucht und auch im Charkiwer Literaturmuseum nachgefragt. Unsere Projektkuratorin Oksana Shchur hat sich überall umgehört und meldete sich am kommenden Tag mit einer Auswahl der Aufnahmen aus dem ukrainischen Rundfunkarchiv bei uns.

Wir stellten fest, dass die frühesten davon aus den 1960ern stammen, aber es gab auch ein paar Aufnahmen von den wenigen Dichtern, die die 1930er überlebt hatten. Zwar waren sie schon in ihren Sechzigern und ihre Stimmen klangen dementsprechend, aber ich wollte unbedingt mit diesen Aufnahmen arbeiten und sie in unsere Songs integrieren.

Und so sind sie Teil von „Fokstroty“ geworden, und jedes Mal, wenn ich meinen Rechner vor einem Konzert mit Serhij beim Soundcheck hochfahre, glaube ich, dass Mykola Bazhan und Wolodymyr Sosiura mitgekommen sind, um mit uns die Bühne zu teilen. „Pryvit“ (Hallo!), begrüßen sie uns im Refrain des gleichnamigen Songs. Pryvit, antwortet Zhadan.

Unsere zehn Lieder sind ein Denkmal für die ausgelöschte Renaissance der ukrainischen 1920er, entstanden in den 20ern des 21. Jahrhunderts, als die ukrainische Kultur wieder systematisch vernichtet wird. Die Parallelen sind derart offensichtlich, dass es schmerzt. Heute teilen wir diesen Schmerz mit den Besuchern des Potsdamer Waschhauses.

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