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Gastspiel im Osten der Ukraine.

© Herman Krieger/Ukraïner

Ukrainisches Kriegstagebuch (147): Konzerte für die Befreiten

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

27.6.2023
So etwas spüre ich selten, aber als ich im April die Bilder von Marjan Pyrig im Charkiwer Schriftstellerhaus Slowo sah, hatte ich das Gefühl, als ob etwas sich gefunden hätte, was schon immer zusammen gehörte. Im Slowo lebten vor 100 Jahren die besten Autor*innen der Ukraine, die in den 1930ern fast alle der stalinistischen Tötungsmaschine zum Opfer fielen. Es ist ihr Erbe, mit dem sich Marjan seit Jahren beschäftigt, die meisten von geschriebenen Songs sind Vertonungen ihrer Texte.

Als wir im Dezember 2022 in einer Lwiwer Kneipe saßen, sprach er von den längst verstorbenen ukrainischen Dichter*innen wie über vertraute Freunde. So als ginge es um jemanden, der eigentlich auch hier am Tisch sitzen sollte, bloß ein wenig zu spät kommt.

Pyrig erscheint wie ein leicht exzentrischer Zeitreisender – ich könnte ihn mir gut in Charkiw der 1920er Jahre vorstellen, als einen der Protagonisten der großen kulturellen Renaissance, die in der damaligen Hauptstadt der Sowjetischen Ukraine stattfand.

Bei unserem Telefonat heute berichtet er begeistert über eine andere Renaissance, von der er gerade Zeuge ist. Marjan und seine Band befinden sich derzeit auf Tour, aber diese Tour verläuft ganz anders als die von vielen meiner Kollegen hier.

Für zahlreiche Musiker ist der Sommer die Festival-Hochsaison, sie reisen von einem Festival zum anderen und versuchen, an den Tagen dazwischen noch zusätzliche Auftritte an anderen Orten zu arrangieren. Pyrig i Batig spielt diese Woche weder auf Festivals noch in den Clubs, ihre Tour, organisiert von der Art Dacha Stiftung, führt sie in den Osten der Ukraine, in die kleinen Ortschaften der Region Charkiw, die im Herbst letzten Jahres von der russischen Besatzung befreit wurden.

„Das mag wie ein Paradox klingen, aber es ist wirklich eine Wiedergeburt, im wahrsten Sinne des Wortes!“, sagt Marjan, „noch gestern versuchte man, diese Leute zu töten – und schau nur, heute leben sie weiter!“

Langsam kehren die Menschen zurück

Ein Bekannter schickte mir kürzlich ein Video von der ukrainischen Rapperin Alyona Alyona, deren fulminantes Set er letztes Wochenende auf Glastonbury erlebt hat. „Deine Kumpels von Musicians Defend Ukraine müssen sich doch auch bei Glastonbury bewerben, vielleicht geht da was!“, schrieb er dazu. Wenn, dann vielleicht im Jahr 2024, erwiderte ich – im Moment hat Lesik Omodada, einer der Gründer von Musicians Defend Ukraine, der bei Pyrig i Batig trommelt, andere Sorgen – er baut sein Schlagzeug im Dorf Schewtschenkowe auf und bereitet sich zum Soundcheck vor.

Schewtschenkowe ist einer der vielen ukrainischen Orte, von denen man in Deutschland bis 2022 nie gehört hat. Inzwischen taucht es aber immer wieder in den Nachrichten auf. Die Internetsuche liefert Schlagzeilen aus den letzten Monaten wie „Putin lässt Bomben auf Schewtschenkowe regnen“ oder „Zwei Tote bei einem Raketenangriff in der Region Charkiw“.

Gestern spielte Pyrig i Batig in Tschkalowske. „Diesen absurden Namen zu Ehren des Piloten Tschkalow bekam das Dorf zu Sowjetzeiten, stell Dir vor, früher hieß es Neschuriliwka!“, sagt Marjan. (Ins Deutsche lässt es sich ungefähr wie das Dorf der Unbeschwertheit übersetzen). Das wussten viele der Bewohner nicht, waren aber der Meinung, man sollte unbedingt zum alten Namen zurück wechseln, nachdem Marjan es ihnen bei seinem Konzert berichtet hatte.

Langsam kehren die Leute zurück, das erzählen mir Marjan und auch Lesik. In Tschkalowske waren es nur 80 Menschen, als der Ort im September 2022 befreit wurde, inzwischen sind es schon 2000. Viele von ihnen haben seit mehreren Monaten keine Livemusik mehr erlebt und waren über den Auftritt der Jungs extrem erfreut. Die Kinder tanzten auf der Bühne, so Marjan, und nachdem der letzte Song erklungen war, wollte das Publikum die Musiker nicht gehen lassen. „Sie bedankten sich, haben uns umarmt, schlugen uns vor, länger bei ihnen zu bleiben, wollten Selfies machen …”

Noch fünf weitere Konzerte haben Pyrig i Batig diese Woche zu spielen. Auf dieser ungewöhnlichen Reise werden sie von einem Team des Medienprojekts Ukraїner begleitet, die das Ganze dokumentieren soll. Die Entbesetzungstour geht weiter.

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