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Der Schriftsteller Martin Walser, aufgenommen am 19.12.2016 in Birnau

© dpa/Felix Kästle

Zum Tod von Martin Walser: Der streitbare Zustimmungssüchtige

Ein Nachruf auf den großen Schriftsteller Martin Walser, einen der letzten, stets auch politisch wirkenden, oft umstrittenen Repräsentanten der Nachkriegsliteratur.

Es muss an diesem ersten Dezember 2019 im Stuttgarter Literaturhaus alles wie immer gewesen sein. Martin Walser hatte die Wochen zuvor ein neues Buch veröffentlicht, „Mädchenleben oder Die Heiligsprechung“, und nun war Buchpremiere. Walser las aus dem Buch, fast alles, wie zu hören war, weil es ein schmales ist.

Seine Familie, Weggefährten wie der Schriftsteller Arnold Stadler, die Literaturkritik und viel Publikum waren gekommen, und nach der Lesung sagte er unter anderem, dass es für einen Schriftsteller „keine andere Wirklichkeit als die Sprache“ gebe.

Auch mit weit über neunzig Jahren wollte Martin Walser es sich nicht nehmen lassen, nicht nur zu schreiben, das sowieso nie. Nein, er wollte seine jeweils neuen Bücher auch öffentlich vorstellen, daraus lesen; Bücher, die es von ihm mit zunehmenden Alter immer mehr zu geben schien, neue Prosa genauso wie zahlreiche Tagebuchbände. 

„Das Leben ist nur erträglich, wenn man schreibend darauf antwortet

Martin Walser

Unweigerlich dachte man bei diesen Lesungen des späten Walsers dann immer häufiger daran, wie viele Jahrzehnte er das schon macht. Walser hatte in den frühen fünfziger Jahren erste Auftritte bei der Gruppe 47. Er gewann 1955 schließlich mit der Erzählung „Templones Ende“ auch den ersten Preis der Gruppe und feierte damit seinen ersten Erfolg.

Was er in seinem Tagebuch ein paar Wochen später erst nur mit einer Zeile sehr kühl und wie ein Buchhalter registrierte: „Am 15. Mai 1000 Mark, Preis der Gruppe 47, für die Geschichte über einen älteren Herrn (Templone)“.

Debüt 1957 mit „Ehen in Philippsburg“

Es folgte danach schnell ein erster Erzählband, „Ein Flugzeug über dem Haus“, und 1957 sein erster Roman „Ehen in Philippsburg“, beides sehr von Kafka inspirierte Bücher. Walser war zu diesem Zeitpunkt dreißig Jahre alt, hatte seinen Geburtstag wegen eines Gallenleidens und eines Verschlussikterus im Krankenhaus zugebracht und zweifelte an seinem Schreiben.

So notierte er in seinem Tagebuch: „Wie war das Schreiben leicht und mühelos, als ich noch aus Kafka eine Manier machte. (…) Ich überlege alles, wahrscheinlich zuviel. Der Mut hat mich verlassen. Das blinde Vertrauen, dass etwas herauskommt und dass das, was ich schreibe, das Richtige ist, wert, überhaupt geschrieben zu werden, das sollte man wahrscheinlich nicht fragen. Und ich hoffe, dass ich im rechten Augenblick von solchen Fragen auch wieder entbunden werde.“

Über 65 Jahre liegen zwischen diesen Zweifeln und seinem Satz, nur in der Sprache die Wirklichkeit zu erfahren. Bedenkt man, wieviel Walser in dieser Zeit geschrieben hat, wie produktiv er bis zuletzt war, dürfte er sich nach dem Wert und der Richtigkeit seines Schreibens irgendwann nicht mehr gefragt haben. Das Schreiben, es war ihm eine Notwendigkeit, es war sein Leben, Walser schrieb aus einem Mangel heraus. „Das Leben ist nur erträglich, wenn man schreibend darauf antwortet“, hat er in einem Interview gesagt. Und was war das für ein Leben! Allemal ein geglücktes Schriftstellerleben. 

Martin Walser wurde nach seinen Anfängen in den fünfziger Jahren zu einer der maßgeblichen Schriftsteller der bundesrepublikanischen Nachkriegsliteratur, neben Heinrich Böll und Günter Grass zu ihrem wichtigsten politischen Repräsentanten. Immer wieder setzte er sich mit der Schuld der Deutschen, mit der Geschichte und der Teilung des Landes auseinander. 

Seine Streitlust und Debattierfreudigkeit machten ihn zu einer intellektuellen Reizfigur. Das überstrahlte mit den Jahren sein erzählerisches Werk - stand aber auch in einem auffälligen Kontrast zu seiner praktisch nicht zu therapierenden Zustimmungssucht und Verletzungsanfälligkeit.

Dazu passte, dass er sich häufig der Physis seiner Gegenüber versichern wollte, er gern in Arme griff, die Berührung suchte, wenn er jemand einmal etwas näher kennengelernt hatte. Mit der ihm eigenen Robustheit schoss er dabei selbst manchmal übers Ziel hinaus: ein Tätscheln im Gesicht war von einer sanften Backpfeife kaum zu unterscheiden. 

Wie oft bekannte er, mit Meinungen „keine guten sprachlichen Erfahrungen“ gemacht zu haben und die Ausschließlichkeit von Meinungen nicht zu schätzen. „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr“, schrieb er. Oder: „Der Verurteilungsgestus ist die Form, in der sich eine Meinung am wohlsten fühlt“. Das „Reizklima des Rechthabenmüssen“ bereitete ihm ein Unwohlsein. Wie stolz war er darauf, als er glaubte, sich daraus in den nuller Jahren endlich verabschiedet zu haben - um sich doch immer wieder aufs Neue befragen zu lassen, an die Meinungsfront, mitten hinein in dieses Klima, den Diskurs der Meinungen zu begeben, bis ins hohe Alter hinein.

So ist es die Crux von Martin Walser gewesen, nach dem Fall der Mauer noch mehr als vorher, dass er zwar einerseits ein beträchtliches, ja: riesiges Erzählwerk geschaffen hat. Bis in die neunziger Jahre hinein schaffte er es mit jedem seiner Romane in die Bestsellerlisten, erhielt dafür viele Literaturpreise, unter anderen den Georg-Büchner-Preis 1981. 

Der politische Walser

Andererseits aber war er der große deutsche Schriftsteller, den viele Menschen noch mehr als mit seinen Romanen mit seinen politischen Haltungen in Verbindung bringen: mit seinen Einlassungen darüber, die deutsche Teilung eigentlich nicht akzeptieren zu können. Damit sorgte er in den späten siebziger und den achtziger Jahren immer wieder für Empörung, erst recht nach der Wende. Vor allem mit der Paulskirchenrede 1998, mit der er sich für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bedankte.

Darin bekannte er, „dass sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt“. Oder: „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch solche Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität Lippengebet.“ 

Als er ein paar Jahre später den satirisch gemeinten, nicht so großartigen Roman „Tod eines Kritikers“ veröffentlichte, eine Abrechnung mit seinem Kritiker-Intimfeind Marcel Reich-Ranicki, von Frank Schirrmacher in der „FAZ“ als „Dokument des Hasses“ bezeichnet, war das Urteil über ihn endgültig gefällt: Walser stand nicht nur in dem abwegigen Verdacht, einen Schlussstrich unter die Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit ziehen zu wollen, „ein geistiger Brandstifter“ zu sein, wie ihn der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden bezeichnete, Ignatz Bubis.

Nein, man warf ihm vor, auch ein Antisemit zu sein. „Das Repertoire antisemitischer Klischees ist leider unübersehbar“, urteilte Schirrmacher, Jan-Philipp Reemtsma sah darin gar „einen antisemitischen Affektsturm“ am Brausen. 

Ist „Tod eines Kritikers“ ein antisemitscher Roman?

Walser argumentierte mit der Sprache, mit den Problemen, eine geeignete Sprache für das Ungeheuerliche zu finden. Er argumentierte mit dem „Gewissen“, gegen die „Instrumentalisierung“ von Auschwitz. Und auch, dass „Tod eines Kritikers“ mehr noch als ein Reich-Ranicki-Porträt, mehr noch als eine Literaturbetriebssatire, ein differenziertes Selbstporträt war.  

Der Schriftsteller Martin Walser (l) und der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki 1996
Der Schriftsteller Martin Walser (l) und der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki 1996

© picture-alliance/ dpa/Fabian Matzerath

Diese Debatten verfolgten Walser fast bis zuletzt, da wurden immer wieder Lesungen von ihm gestört. So wie 2012, als Studierende der HU eine Buchpräsentation im Audimax verhindern wollten, weil er angeblich eine „relativierende Sicht auf die deutsche Geschichte“ habe. 

Konnte Walser damit gelassen umgehen, mangelte es ihm an Souveränität beim Umgang mit der Literaturkritik, mit Verrissen sowieso. Häufig beklagte er in Gesprächen „das rührende Unverständnis“ der Kritik, ohne das wirklich rührend zu finden, ihren fehlenden „Informationsfleiß“.

Legendär wurde sein verbissenes, unversöhnliches Verhältnis zu ebenjenem Marcel Reich-Ranicki, den er nach dessen Tod 2013 weiterhin in Büchern wie „Statt etwas oder Der letzte Rank“ oder „Spätdienst“ erwähnt hat. Reich-Ranicki hatte ihm schon in den sechziger Jahren attestiert, „ein Mann eher des Arguments als des Bildes“ zu sein, „mehr Esprit als Phantasie“ zu haben. Walsers Figuren würden sich weniger als deren Gedanken einprägen.

Romane, die von deformierenden Abhängigkeiten erzählen

Reich-Ranicki hatte ihn oft verrissen, ihm „Mordabsichten“ nach „Tod eines Kritikers“ unterstellt. Als der Kritiker, sich wieder ganz auf sein eigenes Urteil konzentrierte und einen Kanon der deutschen Literatur zusammenstellte, nahm er darin Walser nur mit einem Essay über Heinrich Heine auf. 

Die Abhängigkeit ist ja auch das Geliebtwerdenwollen

Martin Walser

Doch ist es wirklich nicht leicht, den einen, alles überragenden Roman von Walser zu nennen. Die eine „Deutschstunde“ oder „Blechtrommel“ gibt es in Walsers Werk nicht, ein Meisterwerk, das ihm international zu mehr Ansehen verholfen hätte. Walsers Werk ist die hohe Summe aus vielen einzelnen Teilen. Die Essays stechen daraus tatsächlich hervor, sie sind echte Sprachkunstwerke, auch solche über Kafka, Hölderlin, Heine und Proust.

Aber da sind natürlich gerade auch die vielen Romane über die bundesrepublikanische Gegenwart der sechziger bis achtziger Jahre, über die Wirtschaftswunder- und zunehmenden Wohlstandsgesellschaft. Diese Romane erzählen von deformierenden Abhängigkeiten, von entfremdeten Verhältnissen, es sind allesamt Angestellten- Makler- und Bodenseeromane: die Anselm-Kristlein-Trilogie („Halbzeit“, „Das Einhorn“ und „Der Sturz“), „Seelenarbeit, „Das Schwanenhaus“, „Jenseits der Liebe oder „Jagd“. Ihre Helden: der Werber Anselm Kristlein, der Chauffeur Xaver Zürn oder der nicht gerade über die Maßen erfolgreiche Makler Gottlieb Zürn. 

Die deutsche Vergangenheit wurde nach der Wende zu seinem Element

Walser hat sich dabei immer auf die Seite der Untergebenen, der vermeintlichen Verlierer gestellt und eingefühlt. Diese seien für den Schriftsteller einfach „interessanter“, nicht zuletzt weil „die Abhängigen nachts an ihre Chefs denken und wissen, dass die Chefs nicht an sie denken.“, wie er es einmal formuliert hat: „Die Abhängigkeit ist ja auch das Geliebtwerdenwollens.“

Und trotzdem, wie er es seinem ebenfalls Gedichte verfassenden Gottlieb Zürn in „Das Schwanenhaus“ zuschreibt: „Es gibt ein Glück der Unterlegenen, von dem der Überlegene keine Ahnung haben kann. Das wäre sein Thema. Und er und seine Zuhörer müssten den Eindruck haben, seit dem Augenblick, in dem der Satz, man solle seine Feinde lieben, zum ersten Mal ausgesprochen wurde, habe noch keiner eine so weitgehende Verwirklichung dieses Satzes erreicht wie jetzt Gottlieb Zürn.“ 

Nach der Wende und in dem Bewusstsein, bald das Rentenalter erreicht zu haben, verstand Walser die Vergangenheit zunehmend als sein „Element“. Er schrieb den Wiedervereinigungs- und Dresdenroman „Die Verteidigung der Kindheit“ und Ende der neunziger Jahre den in Wasserburg am Bodensee angesiedelten Kindheits- und Erinnerungsroman „Ein springender Brunnen“. In Wasserburg am Bodensee wurde Walser 1927 geboren als Kind einer Mutter, die in die Partei eintrat, um ihre Familie als Gastwirtin durchzubringen, und eines Vaters, der eine Kohlenhandlung betrieb.

Ihm wurde vorgehalten, die Deutschen nur als Opfer darzustellen, so wie in „Verteidigung der Kindheit“, oder Auschwitz, den Holocaust in „Ein springender Brunnen“ nicht einmal erwähnt zu haben. Dagegen setzte er sich zur Wehr, allein mit dem Eingangssatz von „Ein springender Brunnen“: „Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird.“ 

Wider den Zeitgeist

Es war, wie es war, so Walser. Dem Zeitgeist wollte er nie entgegenkommen. Weshalb er sich auch in den vergangenen Jahren nicht mehr um die Form des Romans oder eine gezielte Veröffentlichungsökonomie scherte. Sein Spätwerk dominiert eine stilistische Zügellosigkeit, auch ein gewisser prosaischer Zerfall. Es wechseln sich darin erzählende, handlungsreiche Passagen munter ab mit Sentenzen, Aphorismen, Brief-und E-Mail-Kommunikationen. Was einmal fertig geschrieben war, musste unverzüglich veröffentlicht werden.

„Kunst ist dazu da, alles schöner zu machen, als es ist“, heißt eine der vielen solitär stehenden Sätze in seinem „Mädchenleben“-Buch von 2019. Das war eines von Martin Walsers lebenslangen Credos, daran hat er sich bei aller von ihm beabsichtigten gesellschaftspolitischen Relevanz seiner Bücher immer zu halten versucht: „Es schöner zu schreiben, als es ist“. 

Und wie heißt der erste Eintrag seines 1951er-Tagebuch, der so gut zum Schönmachen und Walsers lebenslanges „Die Sprache ist alles, alles andere nichts“ passt? „Die Sprache ist etwas, was man trotz der einzelnen Sätze und Wörter noch spüren muss. Der Dichter führt eine freie Melodie ins Unsichtbare. Wer mitgeht, sieht später was.“

So war das mit Walser, so ging einem das bei der Lektüre seiner Romane, seiner Essays. Man sah danach immer mehr. Nun ist Martin Walser im Alter von 96 Jahren in seinem Haus am Bodensee verstorben.

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