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Hilferuf. Auch dieser 16-jährige Flüchtling aus Benin hofft auf einen Schulplatz.

© Annette Kögel

„Mein kleiner Bruder ist im Mittelmeer ertrunken“: Junge Geflüchtete protestieren für Schulplätze in Berlin

Mehr als ein Jahr müssten unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mitunter auf einen Schulplatz in Berlin warten. Am Montag kamen sie vor dem Centre Francais zu einer Demo zusammen.

Er ist aus Benin geflohen, zu seiner Mutter hat er gerade keinen Kontakt. „Mein kleiner Bruder ist auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken“, sagt der 16-Jährige, der am Montag mit einem Pappschild vor dem Centre Francais in Mitte steht. Jetzt warte er schon seit Monaten vergebens auf ein Erstgespräch bei einer der Clearingstellen des Landesjugendamtes.

Das ist die Voraussetzung dafür, dass er einen Schulplatz bekommt. „In Syrien ist Krieg“, sagt jetzt der elfjährige Ali ein paar Meter weiter auf Arabisch ins Mikrofon, „und ich wünsche mir so sehr, in die Schule zu gehen und Freunde zu finden.“ Dann wendet er sich ab, nimmt die Hände vor den Kopf und weint.

Die beiden demonstrieren mit etwa 200 anderen Kindern, Jugendlichen sowie mit Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen der Jugendhilfe und des Bildungswesens vor dem Centre Francais, während dort die von der Senatsjugendverwaltung einberufene Netzwerkgruppe unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) tagt.

„Wir fordern gleiche Rechte auf Schule für alle Kinder“, steht auf einem der Pappschilder. Doch das ist ein Problem. Mehr als 2200 Jungen und Mädchen haben bisher in diesem Jahr Berlin als sogenannte unbegleitete minderjährige Flüchtlinge erreicht – also ohne ihre Eltern. Teils jahrelang allein auf der Flucht oder mit einem Bruder oder Onkel.

Eine Demonstration mit rund 200 Menschen

Die Jugendvertreter:innen draußen berufen sich auf die Gesetzeslage zum Kinderschutz, die allen Kindern den Schulbesuch zugesteht – drinnen sucht man ob der hohen Ankunftszahlen und der völlig überlasteten Behörden und Pädagogen Lösungen, um das möglich zu machen. Es geht allgemein um die immer schwieriger zu leistende Fürsorge für die Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren, die der deutsche Staat automatisch anstelle der leiblichen Eltern übernimmt.

Viele der Jungs sind vorgeschickt worden in der Hoffnung, dass die Familie dann nachfolgen kann – doch das kann Jahre dauern. Die Kosten für Schlepper sind infolge der Pandemie und der Wirtschaftskrise stark gestiegen, sodass sich die ganze Familie die Flucht nicht leisten kann.

Ohne Vater und Mutter in Berlin. Auch elfjährige Kinder aus Syrien, ohne ihre Eltern geflüchtet und teils auf dem Weg von einem Onkel begleitet, wollen „in die Schule gehen und Freunde finden“.
Ohne Vater und Mutter in Berlin. Auch elfjährige Kinder aus Syrien, ohne ihre Eltern geflüchtet und teils auf dem Weg von einem Onkel begleitet, wollen „in die Schule gehen und Freunde finden“.

© Annette Kögel

Wer mit den Kindern und Jugendlichen wie vor dem Centre Francais spricht, hört Dinge, deren Bewältigung sich selbst Erwachsene kaum vorstellen können: Sie haben den Marsch durch die Wüste in Nordafrika überlebt, in der Leichen von Flüchtlingen liegen. Einige haben sexualisierte Gewalt auf der Fluchtroute beobachten oder selbst erfahren. Sie haben es durch vom IS und Terrormilizen in Nordsyrien beherrschtes Gebiet geschafft und sie sind den Schüssen türkischer Grenzsoldaten ausgewichen.

2200
Unbegleitete Minderjährige kamen 2023 bisher an.

Und nun stehen sie hier, wollen ihre Kinderrechte in Deutschland. „Wie der Staat mit ihnen als schwache Gruppe umgeht, ist ein Skandal“, kritisiert ein Mann, schon lange als ehrenamtlicher Vormund engagiert.

Infolge der Überforderung der Ämter und des Fachkräftemangels dauert es in Berlin jetzt in der Regel ein ganzes Jahr, bevor ein ehrenamtlicher Vormund überhaupt mit der Schulplatzsuche beginnen kann, kritisiert Ronald Reimann von Vormundschaftsnetzwerk Akinda des Vereins Xenion. Die automatisch eingesetzten Amtsvormünder seien mit rund 80 Mündeln pro Person absolut überlastet.

In einer der Reden hieß es, die UMF würden sich in einigen Einrichtungen, ähnlich wie 2015/16, auch an Securitykräfte wenden. Diese haben oft auch einen Migrationshintergrund und verstehen ihre Sprache. Die meisten der unbegleiteten Jugendlichen sind im schwierigen Teenageralter. Gefordert wurden mehr Vormünder für einen schnelleren Familiennachzug. Inzwischen bekommen viele Afghanen – die zahlenmäßig größte Gruppe –, das Recht, Eltern und Geschwister nachzuholen. Was teils Jahre dauert, das Kind derweil in der Fremde, ohne den Erziehungsberechtigten. Auch aus Syrien, Benin, Ukraine und der Türkei kommen laut Senatsverwaltung viele Jugendliche.

Ein Jahr Warten auf einen Schulplatz

Doch gibt es einen Schulplatz, heißt das nicht, dass es mit der Bildungskarriere läuft. „Wir sollen fünf Willkommensklassen an unserem OSZ haben, doch nur für drei gibt es Lehrer“, sagt eine Lehrerin aus dem Südosten Berlins. Manche ihrer Alphabetisierungsschüler seien engagiert, doch es gebe eine hohe Fluktuation. „Viele haben den Auftrag, schnell Geld zu senden, da ist die Geduld nicht da, erst jahrelang zu lernen.“

Die eigenen Rechte hochhalten. Vorm Centre Francais in Wedding demonstrierten junge Flüchtlinge, drinnen tagten Fachleute der Senatsjugendverwaltung und der Jugendhilfe.
Die eigenen Rechte hochhalten. Vorm Centre Francais in Wedding demonstrierten junge Flüchtlinge, drinnen tagten Fachleute der Senatsjugendverwaltung und der Jugendhilfe.

© Annette Kögel

Mit 18 oder nach zehn Schuljahren bestehe zudem keine Schulpflicht mehr. Nach Tagesspiegel-Informationen ziehen viele junge Volljährige dann Jobcenter-Leistungen vor, was mehr einbringt als ein Ausbildungsgehalt oder eine Helfer-Tätigkeit. Manche unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leiden unter Depressionen, Therapieplätze fehlen. Jugendliche, die das Glück haben, einen guten ehrenamtlichen Vormund, Paten oder engagierte Pflegeeltern zu bekommen, sind indes erfahrungsgemäß eher erfolgreich.

Das stemmt die Senatsverwaltung

Nach Auskunft der Senatsjugendverwaltung sollen künftig unter anderem weitere Mittel für Angebote der Jugendberufshilfe wie Beschulungsmaßnahmen in den Erstaufnahmeeinrichtungen für junge Menschen mit Fluchthintergrund bereitgestellt werden. Auch weitere Plätze von „Bildungsangeboten zur Erlangung externer Berufs- und Schulabschlüsse“ für junge Menschen, die nicht im Regelsystem beschult werden, seien geplant, um berufliche und schulische Orientierung sowie Bildungsabschlüsse zu erhalten.

Geduld ist gefragt. Dieser 16-Jährige ist zehn Monate hier, hat immer noch keinen Schulplatz.
Geduld ist gefragt. Dieser 16-Jährige ist zehn Monate hier, hat immer noch keinen Schulplatz.

© Annette Kögel

Man wolle weiter Obdachlosigkeit verhindern und suche weitere „kurzfristig anmietbare Immobilien“ und Träger zur Betreuung, auch das sei Thema beim Netzwerktreffen im Centre Francais gewesen. „Derzeit eröffnen wir nahezu wöchentlich Unterkünfte, allein in den vergangenen 2,5 Wochen waren es fünf Unterkünfte“, teilte Pressesprecherin Susanne Gonswa am Abend auf Anfrage mit.

2023 kann neues Jahr mit Zugangshoch werden

Wie berichtet, kommen aktuell durchschnittlich 17 Jugendliche jeden Tag neu in Berlin an, die meist eigenen Angaben zufolge zwischen 15 und 17 Jahre alt sind. Es sind jetzt, anders als seit 2015/16, mehr Mädchen dabei, etwa aus dem von den Taliban regierten Afghanistan.

Auch aus Syrien, Benin, Ukraine und der Türkei kommen laut Senatsverwaltung viele Jugendliche. Wie berichtet, könnte 2023 mit bislang mehr als 2200 Zugängen ein neues Rekordjahr bei Ankünften von unbegleiteten minderjährigen geflüchteten Kindern und Jugendlichen werden. 2015 waren es 4252 Erstanmeldungen gewesen, die bisherige Höchstzahl. Im Jahr 2016 folgten weitere 1381 Kinder und Jugendlichen, einige davon unter zehn Jahre alt.

Schließlich rufen die Kinder und Jugendlichen, zumeist noch ohne Deutschkenntnisse: „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!“

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