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Krise zwischen Russland und dem Westen: Außenpolitik ohne Blaupause

Gute Außenpolitik braucht intellektuelle Neugier und die Bereitschaft, außerhalb der Konvention zu denken. Das zeigt sich wieder einmal in der Krimkrise

Wie ein schwarzes Loch saugt der Konflikt um die Ukraine alle internationalen Energien auf. Andere Aufgaben, die dringend der Aufmerksamkeit bedürfen, rutschen in den Hintergrund: der Abzug aus Afghanistan samt dem Aufbau einer stabilen Ordnung für die Zeit danach, die islamistische Bedrohung des Nachbarn Pakistan, der anhaltende Bürgerkrieg in Syrien, das Atomabkommen mit dem Iran, die erhoffte Friedenslösung für Palästina und manches mehr, darunter eine ernsthafte Debatte über das Transatlantische Wirtschaftsabkommen. In wenigen Jahren, wenn auf die Versäumnisse die nächsten Konflikte folgen, wird das Wehklagen groß sein: Warum haben wir es nicht kommen sehen, warum nicht besser vorgebeugt? Dass die Ukraine jetzt so viel Energie erfordert, liegt auch daran, dass der Westen die Entwicklung nicht kommen sah oder nicht kommen sehen wollte. Hochrangige Akteure sagen nun, sie hätten Wladimir Putin unterschätzt. Mit anderen Worten: Es fehlte die Offenheit, darüber nachzudenken, ob andere Entwicklungen möglich sind als der erhoffte Wandel durch Annäherung. Hätten die außenpolitischen Vordenker das einkalkuliert, müssten nun „Contingency Pläne“ (Blaupausen für den Eventualfall) vorliegen. Die fehlten offenbar, als es ernst wurde auf der Krim.

Freilich ging es Putin kaum besser. Auch er wurde von den Ereignissen überrascht. Deshalb lässt er alle Rücksichten fallen, obwohl er wissen muss, welchen Schaden er damit auf Russland zieht. Für ihn geht es ums politische Überleben. Die Ausgangspunkte waren unterschiedlich – Europa wollte die Ukraine mit dem Assoziierungsabkommen auf den Reformweg bringen, Putin sie davon abhalten –, die Irrtümer sind dieselben. Beide wurden davon überrascht, dass die Weigerung Premier Janukowitschs, das Abkommen mit der EU zu unterzeichnen, einen studentischen Massenprotest auslöste. Dass prügelnde Sicherheitskräfte die Plätze nicht räumen konnten, sondern sich nun Eltern und Großeltern anschlossen. Dass der Pro-Europa- Protest auf dem Maidan sich behauptete, als scharf geschossen wurde, und dass Janukowitsch floh.

Dann folgte die allergrößte Überraschung für den Westen: dass Putin die Armee einsetzt. Hat sich das niemand vorstellen wollen – trotz Georgienkrieg 2008? Trotz einer Kette eingefrorener Nationalitätenkonflikte, die Moskau nicht zu lösen hilft, sondern zur dauerhaften Stationierung seiner Soldaten nutzt: Nagorny Karabach als Faustpfand gegen Armenien, Abchasien und Südossetien gegen Georgien, Transnistrien gegen Moldawien? Putins Schock waren die Massenproteste 2012 in Russland gegen seine erneute Wahl zum Präsidenten. Er ahnt, dass auch er hinweggefegt werden kann. Ein äußerer Feind schweißt zusammen, „Siege“ schaffen Nationalstolz, daran hat sich nichts geändert. Es ist der letzte Anker gegen ein anderes Russland. Das gibt es auch, nur haben seine Vertreter in dieser Gefühlslage nicht die Mehrheit. Gute Außenpolitik braucht intellektuelle Neugier und die Bereitschaft, außerhalb der Konvention zu denken. Wer überrascht wird, hinkt der Entwicklung hinterher.

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