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Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer haben ein „Manifest für Frieden“ veröffentlicht.

© dpa/Rolf Vennenbernd

Die Missachtung der Ukrainer: Aus Wagenknechts und Schwarzers Forderung spricht der vergnügte Ton der Bevormundung

Ausgerechnet Teile der deutschen Linken ignorieren eine zentrale Lehre des 20. Jahrhunderts: keine Forderungen über von Unrecht betroffene Gruppen hinweg.

Ein Kommentar von Cornelius Dieckmann

Es sind verwirrende Zeiten. Eine Diktatur überfällt eine Demokratie, und bedeutenden Teilen der deutschen Linken fällt es schwer, zuerst an das attackierte Land selbst zu denken.

Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht und die Publizistin Alice Schwarzer haben ein „Manifest für Frieden“ veröffentlicht, in dem sie ein Ende der deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine und sofortige Verhandlungen mit Russland fordern.

Namhafte Personen von Margot Käßmann über Reinhard Mey bis Martin Sonneborn gehören zu den Erstunterzeichnern der Petition, später teilte sie auch AfD-Chef Tino Chrupalla. Der Text gipfelt in dem Satz: „Es ist Zeit, uns zuzuhören!“

Uns! Nicht: den Ukrainern. Ausgerechnet die politische Linke, historischer Garant für berechtigte und notwendige Kritik an der Verordnungsarroganz imperial auftretender Staaten wie USA oder Großbritannien, macht sich kaltes Großmachtdenken zu eigen.

Dabei gehört es zum demokratischen Einmaleins, keine Forderungen über von Unrecht betroffene Gruppen hinweg zu stellen. Das ist eine der zentralen Lehren des 20. Jahrhunderts.

Als der britische Premierminister Neville Chamberlain und Frankreichs Premier Édouard Daladier 1938 in München den Diktatoren Hitler und Mussolini zusagten, Deutschland dürfe sich den als Sudetenland bezeichneten Teil der Tschechoslowakei einverleiben, fehlte am Tisch: die Tschechoslowakei. „Über uns, ohne uns“, so fühlte man in Prag. Im fernen London feierte man „Frieden für unsere Zeit“.

Die Beispiele sind endlos. Am Ende der japanischen Besatzung Koreas 1945 beugten sich in Washington eilig zwei US-Militärs über eine Karte und beschlossen, wo das Land geteilt werden sollte. Die Sowjetunion stimmte zu, die Koreaner wurden nicht gefragt.

1972 reisten US-Präsident Richard Nixon und sein Nationaler Sicherheitsberater Henry Kissinger nach China. Ihr Deal mit Peking, gefeiert als diplomatischer Durchbruch, manövrierte Millionen Taiwanesen in den seit Jahrzehnten andauernden Status der politischen Absurdität. In der Kalkulation der USA spielte die Bevölkerung Taiwans keine Rolle.

Frieden ohne Gerechtigkeit ist keiner

Ein koloniales Mindset wohnt solchem Denken inne: Wir wissen, was für euch am besten ist. Auch aus Wagenknechts und Schwarzers Forderung spricht der vergnügte Ton der Bevormundung.

Nein, Verhandlungen sind nichts Schlechtes. Sie beenden Kriege, werden sehr wahrscheinlich auch am Ende dieses Krieges stehen. Aber die Bedingungen müssen für die Überfallenen stimmen, darauf kommt es an. Wollten die Ukrainer morgen einen Waffenstillstand und Verhandlungen, wäre das für uns Drittstaaten maßgebend.

Aber sie wollen sich verteidigen, und es ist moralisch, politisch, rechtlich und militärisch unterstützenswert, dass sie sich gegen eine Invasion wehren, deren Ziel die Vernichtung ihres Landes ist.

In einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der Münchner Sicherheitskonferenz gaben kürzlich 95 Prozent der befragten Ukrainer an, ein Waffenstillstand sei für sie inakzeptabel, solange russische Truppen auf ukrainischem Gebiet sind.

Die Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk hat es im Gespräch mit dem Tagesspiegel so ausgedrückt: „Frieden kommt nicht einfach, wenn ein angegriffenes Land nicht mehr kämpft. Das ist kein Frieden, sondern Besatzung.“

Das haben wir, die wir nicht angegriffen und ermordet werden, zu respektieren. Gerade Antifaschistinnen und Antikolonialisten, für die man die meisten Unterzeichner der Wagenknecht-Schwarzer-Petition halten darf, sollten sich dieser Tugend entsinnen: Es ist Zeit, ihnen zuzuhören. Ihnen, den Überfallenen.

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