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Im Siegestaumel: Die Vorsitzende von Bündnis 90/ Die Grünen, Claudia Roth (r.), sowie die Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Bundestag, Renate Künast und Jürgen Trittin.

© dapd

Leserkommentar: Leitfaden für chronisch erfolglose Parteien

Wie landet man auf Platz eins der Sonntagsumfrage? Tagesspiegel-Leserin Jennifer Nathalie Pyka über den Erfolgszug der Grünen und wie man in fünf Schritten zum politischen Durchbruch gelangt. Diskutieren Sie mit oder senden auch Sie einen Leserkommentar!

Sie haben es satt, mit Ihrer Partei ständig nur unterhalb der 5%-Hürde rumzudümpeln?

Sie wollen auch endlich fette Abgeordnetengehälter einsacken und statt mit dem Fahrrad im Porsche zum Land/Bundestag vorfahren?

Sie träumen schon lange davon, mit möglichst geringem Aufwand auf Platz eins der aktuellen Sonntagsumfrage zu landen, und von dort aus am besten gleich in der Regierung?

Sie verfügen aber weder über die erforderliche Kompetenz, noch über Seriosität und Realitätsbezug oder gar attraktive Spendengelder?

Dann haben wir diese ultimative Lösung! Wir haben nun exklusiv den grünen Erfolgszug analysiert, wesentliche Merkmale herausgearbeitet und auf dieser Grundlage einen Wahlkampfleitfaden entwickelt, der Ihrer Partei den Marsch durch die Institutionen ermöglicht – und das Beste: Sie brauchen weder charismatische Zugpferde noch fundiertes politisches Know-How. Und so geht’s - in fünf Schritten zum politischen Durchbruch:

1. Zeigen Sie Ihre soziale Seite und werden Sie so zur Partei der Herzen!

Jürgen Trittin und Claudia Roth wissen schon lange: Dagegen sein lohnt sich! Mit einem postpubertären „Nein“ gewinnt man nicht nur Landtagswahlen, sondern spart auch Zeit und Energie, die man normalerweise in politische Reformen und Projekte investieren muss. Doch Vorsicht bei der Wahl der Dagegen-Objekte! Die Faustregel lautet: Immer nur GEGEN Dinge sein, die weder Seele noch Gefühle besitzen, daher also nicht diskriminiert oder diffamiert werden können. Hier bieten sich bspw. Bahnhöfe aller Art an, ebenso wie Kernkraftwerke, Castorzüge oder die radikale Marktwirtschaft. Äußerste Obacht gilt hingegen bei Migranten, Kinderschändern oder arbeitsunwilligen Leistungsempfängern! Jene stehen in Deutschland derzeit unter Artenschutz und dürfen daher keinesfalls angegriffen werden, sondern verdienen Ihre volle Unterstützung . Ausnahmen können lediglich bei Managern, AKW-Betreibern oder Kapitalisten aller Art gemacht werden, die haben nämlich keine Gefühle und dürfen daher selbstverständlich nach Herzenslust gedemütigt (bestenfalls: enteignet) werden. Sobald Sie das Mutter-Teresa-Gewand übergeworfen haben, werden Ihnen die Herzen der Wähler wie im Sturme zufliegen!

2. Schüren Sie Angst!

Sie dachten immer, Angst sei kein guter Ratgeber? Blödsinn! Lassen Sie Ihrer Kreativität freien Lauf, setzen Sie willkürlich abstruse Gefahren in die Welt und ignorieren Sie dabei möglichst die Gesetze der Logik, der Plausibilität sowie den rationalen Menschenverstand. Dabei müssen Sie allerdings beachten, dass bloß niemand außer oder gar vor Ihnen auf die Idee kommt, diese Gefahr überhaupt zu thematisieren. Wenn Sie nun mit Ihrem brandneuen Weltuntergangsszenario vor das Volk treten, wird es sich zwar fürchten, Ihnen aber kurz darauf brav aus der Hand fressen – denn schließlich ist es IHRE Partei, die die Gefahr erkannt hat! SIE sind der furchtlose Messias, der die Gefahr laut ausspricht und selbstverständlich sofort die erforderliche Allzweckwaffe (z.B. „Abschalten! Sofort!“) aus dem Jute-Ärmel schüttelt. Werden Sie alternativlos und reden Sie dem verängstigten Wutbürger ein, dass nur IHRE Partei in der Lage ist, den nahenden Super-Gau abzuwenden, und sonst niemand!

3. In der Kürze liegt die Würze!

Verzichten Sie auf komplizierte realitätsnahe Reden und setzen Sie stattdessen auf kurz gedachte Polemik! Überzeugen Sie den Wähler durch eingängige Schlagworte, die auch ein Bürger mit IQ weit unter 80 zuverlässig und in jeder Lebenslage lautstark wiederholen kann. Stellen Sie bloß keinen wissenschaftlich korrekten Konzepte oder gar höchst komplexe Kausalketten auf. Streichen Sie Sätze wie „Wenn wir dies tun, könnte das eventuell zur Folge haben, dass dies und jenes passieren könnte, sofern wir nicht das tun, um jenes zu erreichen, wobei wir jedoch berücksichtigen müssen, dass dies im Jahre 2016 nicht mehr der Fall sein könnte, denn ...“ sofort aus Ihrem Wortschatz. Der Wähler vor der Glotze versteht so was nämlich ohnehin nicht und schaltet erfahrungsgemäß sofort zur blonden Heidi oder zum bösen Dieter um. 

4. Suchen Sie die Nähe zum Volk!

Studieren Sie ausführlich Ihren persönlichen Protest-Terminplaner und lassen Sie sich bloß keine Demo entgehen! Egal ob irgendwo geschottert, faule Eier oder Kieselsteine geworfen werden – es ist nicht nur Ihre Aufgabe, sondern Ihre Pflicht, stets sofort anwesend zu sein. Investieren Sie großzügig in das notwendige Equipment (Transparente, Fingerfarbe, Trillerpfeife und Regenjacke) und scheuen Sie weder Zeit noch Geld (aber Vorsicht: NICHT mit dem Porsche vorfahren!), sobald sich irgendwo eine adäquate Lichterkette formiert. Das macht nicht nur Spaß sondern schafft auch Nähe zum Wähler, der ihr aufopferndes Engagement wiederum angemessen honorieren wird. Je lauter Sie plärren und je empörter sie drein schauen, desto weniger wird ihm nämlich auffallen, dass Sie als fleißiger Politiker eigentlich gerade im Bundestag anwesend sein sollten. Wenn Sie Glück haben, kommt außerdem noch ein nettes Kamera-Team von Maybrit Illner vorbei, das ihren glamourösen Auftritt nicht nur für die Nachwelt dokumentiert, sondern Ihnen gleich auch eine Einladung zum nächsten Stuhlkreis überreicht.

5. (Optional, nur für erfolgreiche Wahlsieger:) Reformieren Sie das Bildungssystem!

Bildung wird eindeutig überbewertet. Es geht hier schließlich nicht um die Zukunft der Bundesrepublik, sondern um Ihren Platz an der Sonne. Wer braucht schon Abitur, Spitzennoten und Leistung, wenn man doch mit Einheits- bzw. Waldorfschulen und Kuschelpädagogik so viel mehr erreichen kann? Wichtig ist, dass Sie sich einen Tag Zeit nehmen (bloß nicht länger!) und den neuen Lehrplan entsprechend umstrukturieren. Ersetzen Sie Mathematik durch „Professionelles Schottern“ und Goethes „Faust“ durch Ihr eigenes Parteibuch. Damit rekrutieren Sie praktischerweise auch gleich künftige Wähler und sorgen dafür, dass die nächste Generation exakt bis zur letzten Seite Ihres Wahlprogramms, aber keinesfalls weiter denkt!

Wenn Sie all diese Ratschläge sorgfältig befolgen, wird es Ihnen garantiert gelingen, wenigstens eine Legislaturperiode lang regieren zu können. Sollte der Wähler Ihre Ahnungslosigkeit durchschauen und Ihre Partei bei der nächsten Wahl entsprechend verschmähen, ist das zwar bedauerlich, aber auch nicht weiter schlimm. Denken Sie olympisch: Dabei sein ist alles! Sie können es sich dann wieder auf der angestammten Oppositionsbank gemütlich machen und indes Ihren Kollegen bei dem Versuch zuschauen, die Folgeschäden des von Ihnen verursachten Super-GAUs irgendwie zu beseitigen. Außerdem dürfen Sie stolz sein und mit Fug und Recht behaupten, etwas bewegt zu haben. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg!

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Jennifer Nathalie Pyka

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