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Chef und Truppe. Bundeskanzler Olaf Scholf besucht eines Ausbildungs- und Lehrübung des Heeres am 17.10.2022 in Bergen Niedersachsen.

© IMAGO/Melina Waliczek

Republik und Wehrhaftigkeit: Es war einmal eine Zivilmacht

Die Deutschen blicken skeptisch auf die neue militärische Ausrichtung ihres Landes. Das ist gut so. Ein Gastbeitrag.

Von Julia Ganter

Deutschland mag international als Musterland gelten. Es hat jedoch nicht den Ruf, eine proaktive oder strategische Außenpolitik zu betreiben. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war der einzig richtige Weg, international als Zivilmacht mit zwei dominierenden Leitprinzipien aufzutreten: dem Bekenntnis zum Multilateralismus und militärischer Zurückhaltung. Wie die Umfrageergebnisse von „The Berlin Pulse“ seit 2017 zeigen, ist eine vorsichtige, friedensorientierte politische Kultur auch in der deutschen öffentlichen Meinung tief verankert.

Doch während Deutschland zum wirtschaftlichen Kraftzentrum Europas wurde, wuchsen die Erwartungen an seine Rolle in der Welt. Trotz der Forderungen von Deutschlands Partnern, mehr Verantwortung auf internationaler Ebene und für die europäische Sicherheit zu übernehmen, hielt Berlin an seinem Kurs fest. Bis zum 24. Februar 2022, als Russland in die Ukraine einmarschierte.

Drei Tage später kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz eine „Zeitenwende“ in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik an: einen Sonderfonds von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, jährliche Investitionen von mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung, Waffenlieferungen an die Ukraine und weitere Sanktionen gegen Russland. Eine bemerkenswerte Mischung für eine Regierungskoalition, die zumindest in der Theorie aus pazifistischen Grünen, sparsamen Liberalen und russlandfreundlichen Sozialdemokraten besteht.

Wackliges Vertrauen

Als es der Bundesregierung endlich gelang, Raketenwerfer in die Ukraine zu senden, war dies ein echter Meilenstein angesichts der rechtlichen Hürden für deutsche Exporte in Kriegsgebiete, applaudierten die europäischen Partner und westlichen Verbündeten. Das Vertrauen in die Verlässlichkeit Deutschlands steht jedoch nach wie vor auf wackligen Beinen, vor allem aus Sicht der osteuropäischen und baltischen Nachbarn.

Der Umschwung in der öffentlichen Meinung vollzog sich rasch. Im März sprachen sich 67 Prozent der Deutschen für eine Beteiligung des Landes an der Lösung internationaler Krisen aus, und auch Monate nach dem Beginn des Einmarsches Russlands in der Ukraine befürwortet eine Mehrheit die Lieferung schwerer Waffen.

Dies führt zu zwei entscheidenden Fragen. Erstens: Wird die Öffentlichkeit das unterstützen, was zu einem neuen außen- und sicherheitspolitischen Kurs Deutschlands werden könnte? Zweitens: Markiert die „Zeitenwende“ das Ende der deutschen Tradition als Zivilmacht und den Beginn eines militärisch stärker engagierten Landes?

Die jüngsten Umfrageergebnisse von „The Berlin Pulse“ geben eine Antwort auf die erste Frage: Der Meinungsumschwung kurz nach der Invasion in der Ukraine war nicht nachhaltig. Was die internationale Rolle ihres Landes angeht, sind die meisten Deutschen wieder zurückhaltend.

Zweifel am internationalen Engagement

Nur 41 Prozent sprechen sich für ein stärkeres internationales Engagement aus, und innerhalb dieser Gruppe ziehen 65 Prozent ein diplomatisches Engagement einem militärischen (14 Prozent) oder finanziellen (13 Prozent) vor.

Dazu passt, dass sieben von zehn Deutschen nicht wollen, dass ihr Land eine militärische Führungsrolle in Europa einnimmt, und dass neun von zehn die Anschaffung eigener Atomwaffen ablehnen. Berücksichtigt man die Aussage des Kanzlers in seiner Bundestagsrede im Februar – „wenn etwas einen breiten Konsens in Politik und Öffentlichkeit findet, wird es Bestand haben“ –, steht es schlecht um die „Zeitenwende“.

Dennoch wäre es falsch, daraus zu schließen, dass die Deutschen gegen alles sind, was eine militärische Komponente hat. Eine deutliche Mehrheit von 60 Prozent findet es richtig, dauerhaft mehr in Verteidigung zu investieren.

Eine Erklärung für diese auf den ersten Blick widersprüchlichen Positionen könnte sein, dass die Deutschen die aktuellen militärischen Kapazitäten ihres Landes realistisch einschätzen und daher lieber erst investieren, bevor sie mehr Engagement zusagen, geschweige denn irgendeine Art von militärischer Führungsrolle in Europa übernehmen.

Öffentlichkeit als Kontrollinstanz?

Entgegen der Behauptung, die deutsche Öffentlichkeit müsse endlich verstehen, dass ein militärisch stärkeres Deutschland auch zu einem sichereren Europa führe, sollte man die Skepsis der Bevölkerung aufgreifen und sie als Stärke deutscher Außenpolitik begreifen. Könnte es eine bessere militärische Führungsmacht in Europa geben als eine, die sich auf ihre Öffentlichkeit als Kontrollinstanz verlassen kann?

Aus internationaler Sicht geht es bei den jüngsten Entscheidungen Deutschlands lediglich darum, den Status quo aufzuholen, den andere längst erreicht haben. Aus deutscher Sicht sind sie jedoch eine bemerkenswerte Entwicklung. Die Zeiten, in denen Deutschland der Inbegriff einer Zivilmacht war, sind vorbei.

Bei der Neuausrichtung der Sicherheitspolitik muss sich Berlin daher auf zwei Aspekte konzentrieren. Erstens die Schaffung eines außen- und verteidigungspolitischen Konzepts, das den internationalen Erwartungen entspricht. Die nationale Sicherheitsstrategie, die momentan von der Bundesregierung erarbeitet wird, muss diesen Anforderungen gerecht werden.

Zweitens ist es an der Zeit für einen „Frühjahrsputz“ in der Außenpolitik. Fehler, wie das Prinzip „Wandel durch Handel“, müssen über Bord geworfen werden, während es das, was eine Stärke deutscher Außenpolitik war, zu bewahren gilt. Ein Beispiel dafür ist die Fähigkeit, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen durch eine vielseitige internationale Präsenz, bestehend aus Krisenprävention, Entwicklungszusammenarbeit, Auswärtiger Kulturpolitik und nicht zuletzt Diplomatie.

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