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Ein Demonstrant gegen Teilmobilmachung wird in St. Petersburg abgeführt

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Teilmobilisierung in Russland : Flüchtende Russen müssen in Deutschland willkommen sein

Auch Männer, die der Zwangsmobilisierung entkommen wollen, sollten Asyl bekommen. Egal, warum sie den Waffendienst verweigern

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

Asylsuchende, die jetzt Russland verlassen wollen, haben zwei Ziele im Sinn. Sie wollen ihr eigenes Leben bewahren, und das Leben anderer nicht gefährden. Kurz: Sie wollen nicht getötet werden, und sie wollen nicht töten. Welcher der beiden Wünsche bei den meist jungen, russischen Männern dabei an erster Stelle steht, ist für das Gastland zweitrangig.

Es gibt auch keine erstrangigen und zweitrangigen Kriegsflüchtlinge. Weder unter den Russen selber, noch zwischen Russen und Ukrainern, oder unter anderen Flüchtenden. So taugt denn das Argument nicht, das teils von ukrainischen Stimmen erhoben wird, russische Bürger, die bisher stillsaßen, geschwiegen haben, nicht demonstriert haben, dürften, wenn sie jetzt fliehen, nicht für ihr vorheriges, passives Verhalten durch Asyl belohnt werden.

Weder juristisch nach der Gesetzeslage, noch aus rein humanitärer Perspektive können Staaten und Gesellschaften sich auf solche Bedenken oder Forderungen einlassen. Jeder Oleg, Sergej, Alexej oder Dimitrij, der sich der Zwangsrekrutierung eines Regimes entziehen will, das einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg führt, handelt im Sinn der Kriegskritik, des Friedens.

Sie alle handeln im Sinn des Erhalts der Ukraine, ob das nun als oberstes Ziel auf ihrer Agenda steht, oder weiter unten oder für sie kaum eine Rolle spielt. Es ist und bleibt ein Faktum.

Russlands Medien sind gleichgeschaltet

Seit Monaten berichten Beobachter, dass ein Großteil der jungen Leute, die an die ukrainischen Fronten entsandt werden, kaum eine Ahnung davon haben, worum es der Führung im Kreml geht. Russlands Medien sind gleichgeschaltet, freie Meinungsäußerungen sind so gut wie ausgeschaltet, drakonische Gesetze ahnden, wenn nicht das Denken, so doch das Verbreiten von Gedanken, die dem Regime missfallen.

Es drohen Repressalien und Haftstrafen. Eben erst hat die OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, ein „Klima der Angst und Einschüchterung“ in Russland kritisiert.

Jetzt gibt es in Russland eine konkrete Bedrohung des Privatlebens.

Caroline Fetscher

Offenbar hat die öffentliche Gehirnwäsche der russischen Staatsmedien solange funktioniert, wie noch keine flächendeckende, konkrete Bedrohung des Privatlebens existierte. Jetzt dämmert es der Bevölkerung, was der Krieg für sie bedeuten kann. Es wird ernst. Nach dem Befehl zur Teilmobilmachung, sammeln Militärbusse und Züge die jungen Männer ein.

Familien stehen in Tränen am Wegrand und auf dem Bahnsteig. Mütter und Väter, Schwestern und jüngere Brüder, wissen nicht, ob sie ihren Sohn, ihren Bruder lebend wiedersehen werden. Solche Szenen zeigen das russische Aufwachen, und die Bilder der Autoschlangen vor finnischen Grenzübergängen, der Andrang an Flughäfen, die eskalierenden Ticketpreise.

Sind sie einmal draußen, sollten die russischen Flüchtlinge die Chance bekommen, sich auch politisch besser orientieren zu können. Zugang zu verlässlichen, oppositionellen Quellen, freie Diskussionsforen, demokratische Informationsangebote sollten in diesen Asylfällen bald zur Standardausstattung gehören. Lebensmittel braucht auch der Intellekt, der Hunger danach dürfte bei vielen da sein.

Jeder, der nicht in den verbrecherischen Angriffskrieg des Kreml ziehen will, muss im Ausland willkommen sein. Jeder ist einer weniger, der dafür eine Waffe in die Hand nimmt. Und jeder kann im Asyl die Chance auf ein selbstbestimmteres Leben ergreifen. Wird eines Tages die Rückkehr möglich, hilft das auch einem dann freieren Russland.   

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