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Gibt es in Putins Zirkel Unfrieden?

© Bearbeitung: TSP | Fotos: imago-images

Kreml-Führung öffentlich untergraben: Kann der Zwist in Putins innerem Machtzirkel Russland gefährlich werden?

Tschetscheniens Machthaber Kadyrow, „Wagner“-Chef Prigoschin und russische Militärblogger wettern gegen das Verteidigungsministerium. Experten sehen eine Gefahr für Putins Machtapparat.

Nach dem russischen Rückzug aus der ostukrainischen Stadt Lyman wächst in Putins Machtapparat der Unmut. Einflussreiche Verbündete des Kremlchefs wie der tschetschenische Machthaber Ramzan Kadyrow und der Chef der Söldner-Truppe „Wagner“, Jewgeni Prigoschin, machen ihrem Ärger über die Militärführung in ihren Telegram-Kanälen Luft.

Bereits Mitte September kündigte der Tschetschenen-Führer an, wenn es nötig sei, dann werde er nach Moskau reisen, um dem Verteidigungsministerium zu erklären, was zu machen sei. „Wenn man mich fragt, ich würde den Kriegszustand erklären und alle Möglichkeiten dafür nutzen, um so schnell wie möglich mit diesen Ungläubigen aufzuräumen“, verlautbarte er damals auf Telegram. Eine Generalmobilmachung sei nötig.

Kadyrow, der mit im Auftrag des Kremls die russische Teilrepublik Tschetschenien führt, hat sich durch seine Brutalität den Beinamen „Putins Bluthund“ verdient. Seine Armee ist auch im Ukrainekrieg im Einsatz – und soll an den Gräueltaten in Butscha beteiligt gewesen sein.

Kadyrow wettert gegen Verteidigungsministerium

„Wegen des Mangels an grundlegender militärischer Logistik haben wir heute mehrere Siedlungen und ein großes Gebiet aufgegeben“, schrieb Kadyrow am vergangenen Wochenende seinen fast drei Millionen Abonennt:innen.

Die Schuld für den Rückzug aus Lyman schreibt er dem Kommandeur des Zentralen Militärbezirks, Generaloberst Alexander Lapin, und dessen Vorgesetzten Waleri Gerassimow, dem Chef des Generalstabs der russischen Streitkräfte, zu. Kadyrow persönlich hätte Gerassimow „über die Gefahr“ eines ukrainischen Vormarsches informiert.

Dann zielt Kadyrow auf das russische Verteidigungsministerium und dessen Chef Sergej Schoigu: „Die Armee muss Kommandeure ernennen, die charakterstarke, mutige und prinzipientreue Männer sind, die sich um ihre Männer kümmern, die für ihre Soldaten kämpfen und die wissen, dass ihre Untergebenen nicht ohne Hilfe und Unterstützung gelassen werden dürfen.“

„Putins Koch“ springt Putins „Bluthund“ bei

Beistand erhält Putins „Bluthund“ von „Wagner“-Chef Jewgeni Prigoschin. Ebenfalls auf Telegram erklärt er, dass „Kadyrows ausdrucksstarke Erklärung“ eigentlich überhaupt nicht sein Stil sei. Was ihn aber nicht davon abhält, dessen Forderung zuzustimmen: „All diese Bastarde gehen mit ihren Maschinengewehren barfuß an die Front.“

Der russische Geschäftsmann Jewgeni Prigoschin, ein Verbündeter von Präsident Wladimir Putin, erklärte, er habe die Söldnergruppe „Wagner“ gegründet (Archivbild).
Der russische Geschäftsmann Jewgeni Prigoschin, ein Verbündeter von Präsident Wladimir Putin, erklärte, er habe die Söldnergruppe „Wagner“ gegründet (Archivbild).

© AFP/Sputnik/ALEXEY DRUZHININ

Unternehmer Prigoschin belieferte lange die Küche des Kreml, was ihm den Spitznamen „Putins Koch“ einbrachte. Erst im September gab er öffentlich zu, dass er die „Wagner“-Gruppe im Mai 2014 gründete, um Kämpfer in den ukrainischen Donbass zu schicken. Zu diesem Zeitpunkt sei „eine Gruppe von Patrioten“ gegründet worden, die später den Namen „Wagner“ erhalten habe, hieß es in einer Mitteilung seines Unternehmens.

Kadyrow und Prigoschin könnten Putin schaden

„Kadyrow und Prigoschin gehören zu der kleinen Gruppe von Führungspersönlichkeiten, die die Russen als Silowiki bezeichnen – Menschen mit einer bedeutenden Machtbasis, die entweder Mitglied in Putins innerem Kreis sind oder direkten Zugang zu ihm haben“, schreiben die Militärexperten des US-amerikanischen Think Tanks „Institute For The Study Of War“ (ISW) in ihrem täglichen Lagebericht vom 2. Oktober.

Die Stellungnahmen der beiden Putin-Vertrauten seien eine öffentliche Untergrabung von Putins Führung, heißt es dort weiter. Dabei würden Kadyrow und Prigoschin „möglicherweise unbeabsichtigt“ das offizielle Narrativ des Kremls weiter beschädigen.

Auch das britische Verteidigungsministerium hatte am Sonntag bereits angekündigt: „Weitere Gebietsverluste in illegal besetzten Gebieten werden mit ziemlicher Sicherheit zu einer Verschärfung dieser öffentlichen Kritik führen und den Druck auf hochrangige Kommandeure erhöhen.“

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Der Kreml sieht sich unterdessen immer öfter mit Kritik aus den eigenen Reihen konfrontiert. Diese Personen habe Putin bisher nicht zensiert, „wahrscheinlich, weil er sie als Stimmen ansieht, die seine bevorzugte Politik vertreten und denen Russen, die ihn unterstützen wollen, eher vertrauen“, mutmaßt das ISW in seinem Lagebericht. Doch damit könnte nun Schluss sein.

„System der Lügen“ Schuld an Niederlage in Lyman

Kürzlich mussten „die Propagandisten des Kremls sogar den Auftritt des ehemaligen stellvertretenden Befehlshabers des Südlichen Militärdistrikts (SMD), Andrej Guruljow, unterbrechen, als dieser in einer Live-Sendung begann, die höhere Militärführung für die Niederlage in Lyman verantwortlich zu machen“, heißt es in dem ISW-Bericht.

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Zuvor hatte Guruljow gesagt, er könne sich die Niederlage in Lyman nicht erklären. Staatsmedien hatten zuvor noch eine erfolgreiche Verteidigung in Aussicht gestellt. „Er gab einem System von Lügen die Schuld, ,von oben nach unten’ und wurde plötzlich getrennt“, schreibt die US-amerikanische Journalistin Julia Davis auf Twitter.

Einflussreiche Bloggerin greift Schoigu direkt an

Anastassija Kaschewarowa, die ehemalige PR-Chefin des Duma-Vorsitzenden Wolodin Wjatscheslaw und einflussreiche russische Bloggerin, greift Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerassimow infolge des Rückzugs direkt an und fordert Antworten: „Weiß der Präsident von den Vorfällen? Wer berichtet ihm? Wo ist die Ausrüstung? Wo sind die (Panzer) Armata? Wo ist alles? Wie konnte das passieren? Eingesackt? Verkauft? Wo ist sie hin? Gab es sie überhaupt?“

Schon Mitte September hatte der Vorsitzende der kleinen kremlnahen Partei Gerechtes Russland, Sergej Mironow, eine Befragung Schoigus im russischen Parlament ins Spiel gebracht.

Für den Kreml sind die Anschuldigungen offenbar so gravierend, dass Sprecher Dmitri Peskow sich am Montag laut Tass zu einer Stellungnahme genötigt sah: „Natürlich wird alles, was passiert, alles, was das Militär während der Spezialoperation tut, dem Oberbefehlshaber gemeldet.“ Putin stehe in einem permanenten Austausch mit dem Militärkommando und dem Verteidigungsminister.

Auch unter den russischen Militärblogger rumort es. Sie „haben bei ihrem Publikum wahrscheinlich den Ruf, genauere Quellen zu sein als das russische Verteidigungsministerium, weil sie über Rückschläge und Fehler berichten und gleichzeitig kriegsfreundliche und patriotische Ansichten vertreten“, argumentiert das ISW.

Experten vergleichen Putins Dilemma mit Ende der Sowjetunion

Daher seien die Blogger wichtige Verbündete für Wladimir Putin. Aber die Blogger „schüren unmögliche Erwartungen und stellen Forderungen, die Putin und die russische Regierung unmöglich erfüllen können“. Sie beständen darauf, dass Putin die gesamte Ukraine erobert.

Die ISW-Experten vergleichen Putins Dilemma gegenüber den Militärbloggern mit Michail Gorbatschows Politik der „Glasnost und Perestroika“ (Offenheit und Reformen). „Gorbatschow öffnete Mitte der 1980er Jahre teilweise den sowjetischen Informationsraum in der Hoffnung, dass die sowjetischen Bürger:innen ihm Einblick in die Ursachen der bürokratischen Dysfunktion innerhalb des sowjetischen Staates geben würden, die er von oben nicht erkennen konnte.“

Die Sowjet-Bürger:innen hätten die Öffnung aber dazu genutzt, „das gesamte sowjetische System anzugreifen“. Die daraufhin von Gorbatschow eingeleiteten Reformen („Perestroika“) hätten letztendlich die Zerstörung der Sowjetunion zur Folge gehabt. Putin sei sich dieses Musters „zweifellos bewusst und hat sicher nicht die Absicht, es zu wiederholen“, schreiben die ISW-Experten.

„Es bleibt abzuwarten, wie viel Putin tolerieren wird und was passiert, wenn er versucht, die Militärblogger und ihre Kritik an seinen eigenen Entscheidungen, die er in Russland vorläufig noch zulässt, zu unterbinden“, resümieren die Experten des ISW. Die Kritik der Blogger richtet sich vor allem gegen Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Dessen ehemaliger Stellvertreter Dmitri Bulgakow wurde Ende September seines Amtes enthoben.

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