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Jannik Schümann liest bei der Gedenkstunde die Geschichte von Karl Gorath vor, dessen Bilder im Hintergrund zu sehen sind.

© action press / Jean MW

Bundestag erinnert an queere NS-Opfer: Eine Gedenkstunde, die nachhallt

Es war lange überfällig, dass der Bundestag auch an queere Opfer erinnert. Auf die Anerkennung warteten sie ihr Leben lang vergeblich.

Auf die Anerkennung als Opfer wartete Karl Gorath Zeit seines Lebens vergeblich. 22 Jahre ist er alt, als ihn die Nazis 1934 zum ersten Mal auf der Grundlage des berüchtigten Paragrafen 175 wegen seiner Homosexualität verurteilen. Es folgen weitere Haftstrafen, Zuchthaus, die Deportation nach Auschwitz.

Er überlebt das KZ – nur um 1947 erneut vor Gericht zu stehen. „Sie sind ja schon wieder hier“, begrüßt ihn der Richter. Es ist derselbe, der ihn bereits in der NS-Zeit verurteilt hat. Goraths einziges Vergehen: Er liebt Männer. Fünf weitere Jahre sitzt er ein, die Zeit im Gefängnis wird ihm später von der Rente abgezogen. Er stirbt 2003, verarmt.

Goraths Schicksal steht stellvertretend für das Tausender schwuler Männer in Deutschland. Am Freitagmorgen ist es der Deutsche Bundestag, der seine Lebensgeschichte zu hören bekommt. Der Schauspieler Jannik Schümann trägt sie vor.

Fast zärtlich erzählt Schümann von Gorath, der immer wieder von der Gesellschaft gedemütigt und ausgegrenzt wurde: „Du bist alt geworden, lieber Karl, aber nicht alt genug.“ Nicht alt genug, um zu erleben, dass der deutsche Staat ihn rehabilitierte.

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Der Anlass: Die Gedenkstunde des Bundestags an dem Tag, an dem vor 78 Jahren das KZ Auschwitz-Birkenau befreit wurde. Seit 1996 erinnert das Parlament an diesem 27. Januar an die Opfer des Nationalsozialismus. Große Reden wurden über die Jahre gehalten. Nach und nach hat das Parlament dabei die einzelnen Opfergruppen in den Blick genommen.

Langer Kampf um angemessenes Gedenken

Bis 2023 aber hat es gedauert, dass die Menschen im Mittelpunkt stehen, die wegen ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität verfolgt wurden. Rund 50.000 Männer sind deswegen verurteilt worden. Auch lesbische Frauen kamen in Haft, oft als „Asoziale“ gebrandmarkt.

Lange mussten Historiker:innen und Aktivisti:innen um diese Gedenkstunde kämpfen, sie fast erbetteln. So lange, dass es heute keine Überlebenden aus dieser Gruppe gibt, die im Bundestag persönlich vom (Über)leben des Naziterrors erzählen können.

Bei all der schwierigen Geschichte – es ist eine große, würdige Gedenkstunde, die nicht nur den queeren, sondern allen NS-Opfern gerecht wird. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas fordert eine „lebendige Erinnerungskultur“ ein: „Es ist gefährlich zu glauben, wir hätten ausgelernt.“ Die Holocaust-Überlebende Rozette Kats schlägt einen Bogen von ihrem Schicksal als Jüdin zu den queeren Opfern.

Klaus Schirdewahn, der 1964 wegen des Paragrafen 175 verurteilt wurde.
Klaus Schirdewahn, der 1964 wegen des Paragrafen 175 verurteilt wurde.

© action press / Jean MW

Und so wie Jannik Schümann stellvertretend von einem schwulen Schicksal berichtet, spricht Maren Kroymann über die Jüdin Mary Pünjer, die unter dem Vorwand der „Asozialität“ verhaftet wurde. Sie wurde ermordet, ein KZ-Arzt begründete Menschenexperimente an ihr damit, dass sie eine „kesse, sehr aktive Lesbierin“ sei.

Der Paragraf 175 wurde erst 1994 aufgehoben

Im Zentrum steht indes die Kontinuität der Verfolgung nach 1945, die lange Marginalisierung dieser Opfergruppe und die Schuld, die vor allem die Bundesrepublik noch lange auf sich geladen hat. Der Paragraf 175 wurde 1994 aufgehoben (in der DDR 1968). Sogar erst 2017 machte der Bundestag die Urteile aus den Jahren nach 1945 rückgängig, von denen ebenfalls Zehntausende betroffen waren. „Unser demokratischer Staat hat lange nicht die Kraft gehabt, diese Urteile zu revidieren“, sagt Bas.

Bewegend ist vor diesem Hintergrund der Auftritt von Klaus Schirdewahn. „Dass ich jetzt vor ihnen sprechen kann, ist keine Selbstverständlichkeit“, beginnt er seine Rede. Er war noch nicht ganz volljährig, als er 1964 verurteilt wurde. Um der Haft zu entgehen, willigte er in eine Therapie ein, die ihn von seiner Homosexualität „heilen“ sollte. „Was macht das mit einem Menschen, der zu einer Therapie gezwungen wird, die ihm seine Identität abspricht?“

Er berichtet von Depressionen, der Scheinwelt einer heterosexuellen Familie, die er sich aufbaute – und auch davon, was das mit seiner Frau gemacht hat. Erst spät im Leben beschloss er, offen der schwule Mann zu sein, der er immer war. „Es war eine Befreiung, als ich zum ersten Mal sagen konnte: Ich bin ich.“ Mehrfach bricht seine Stimme. Die Abgeordneten applaudieren lange, als er fertig ist.

Zum Abschluss singt Georgette Dee ein Lied von Marlene Dietrich: „Wenn ich mir was wünschen dürfte, möchte ich ein wenig glücklich sein.“ Vielen queeren Menschen wurde das auch in der Bundesrepublik jahrzehntelang verwehrt. Es ist ein Vormittag, der lange nachhallen wird.

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