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Plötzlich Hoffnungsträger - SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.

© REUTERS

SPD-Kanzlerkandidat: Der Schulz-Effekt

„Martin, Martin“: Der künftige SPD-Parteichef und Kanzlerkandidat begeistert seine Partei, attackiert die AfD und will Anwalt sein - der Ängstlichen.

Als SPD-Chef ist das eigentlich nichts Ungewöhnliches. Kaum ist man im Amt, muss man kämpfen, um Gehör zu finden. Man geht unter im Chor der Kritiker. Auch Martin Schulz braucht an diesem Sonntagnachmittag im Berliner Willy- Brandt-Haus drei Anläufe, bis Ruhe ist. Aber bei diesem designierten Parteichef und Kanzlerkandidaten sind es keine Kritiker, die lautstark werden, es ist schlicht Jubel. „Martin, Martin“-Rufe schallen durch die SPD-Parteizentrale. Minutenlang wird geklatscht, ehe Schulz überhaupt einen Satz sagen kann.

Der künftige SPD-Chef hält eine Art Antrittsrede. Und die ist eine Mischung aus Aufputschmittel für die SPD und Kampfansage an die Union – und die, die Schulz als „Rassisten und Populisten“ bezeichnet. Schulz ist nicht sonderlich nervös, seine Rede hält er konzentriert, er brüllt nicht, spricht in klaren, einfachen Sätzen, in denen sein rheinischer Singsang nicht unterdrückt, aber auch nicht überhöht wird. Er spricht viel von den „hart arbeitenden Menschen“, von „Gerechtigkeit“, sogar vom „Ruck, der durch die SPD und das Land geht“. Es sind Klassiker der Sozialdemokratie, die Schulz antippt, wonach es beispielsweise nicht sein könne, dass ein Konzernmanager Millionen-Boni bekomme trotz nachweislicher Misswirtschaft und eine Kassiererin entlassen werde bei der kleinsten Verfehlung. Er sagt es, als hätte die SPD seit Jahren nicht die Chance gehabt, daran etwas zu ändern. Aber geschenkt, um solche Feinheiten geht es an diesem Sonntag nicht. Denn das viel entscheidendere Wort des Tages im Willy-Brandt-Haus heißt: Erleichterung.

Martin Schulz ist der neue Hoffnungsträger im proppevollen Willy-Brandt-Haus

Immer wieder ist zu hören, wie „gelöst“ die Stimmung sei. Wie „erleichtert“ man sei, wie „positiv überrascht“. Sogar von Freude auf den Wahlkampf sprechen viele. Die SPD hat für diesen Nachmittag die Willy-Brandt-Statue, die sonst immer überlebensgroß neben den Rednern, steht vorsichtig zur Seite gerückt. Nicht in die letzte Ecke, aber doch in den Hintergrund. Denn im Rampenlicht steht mit Martin Schulz jetzt ein neuer Hoffnungsträger. Die Parteizentrale ist proppevoll. Innerhalb von 36 Stunden sei man ausgebucht gewesen für diesen Tag. Auf den Treppenaufgängen, den Etagen, aus den hintersten Winkeln versuchen etliche, einen Blick auf Martin Schulz zu erhaschen. Überall blicken sie gespannt auf Schulz. Es ist an diesem Tag fast egal, was er sagt, denn das Wichtigste ist, dass er überhaupt an diesem Rednerpult und in dieser Funktion hier steht.

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„Ich dachte zuletzt, der Gabriel macht es sowieso, und dann war es eine echte positive Überraschung“, sagt Monika Limmert, Sozialdemokratin aus Berlin. Sie wollte mit ihrem Partner Rainer Scholz und ihrer Bekannten Patricia Reindel den neuen Kandidaten sehen. „Mit ihm wird die SPD wieder lauter. Berge kann er nicht versetzen, aber für fünf bis zehn Prozent mehr ist er gut.“

Plötzlich steht da ein Kanzlerkandidat der SPD, der glaubt, was er sagt

Und so wie den drei Berliner Genossen geht es vielen Sozialdemokraten an diesem Nachmittag. Überall lachende Gesichter, kein Rätselraten mehr, keine Krisengedanken. Aufbruchstimmung ist zu spüren. Vor allem bei Schulz selbst. „Die SPD tritt an, um stärkste politische Kraft zu werden, und ich trete mit dem Anspruch an, Bundeskanzler zu werden.“ Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Aber plötzlich hat man das Gefühl, dass da ein SPD-Kanzlerkandidat steht, der das, was er sagt, sogar selbst glaubt.

Überhaupt wirkt Schulz sehr bei sich. Er weiß, worauf seine Kritiker der politischen Konkurrenz hinauswollen. Er habe kein Abitur, sei nur Buchhändler, habe Alkoholprobleme gehabt, sei ein EU-Bürokrat und habe keine innenpolitische Erfahrung. Offen spricht er das an und wehrt den Angriff nicht nur ab, sondern nutzt ihn zum Gegenangriff. Er schäme sich nicht, aus Würselen in Nordrhein-Westfalen zu kommen, wo er elf Jahre Bürgermeister war. Und dass ihm EU-Kenntnisse zugeschrieben würden, sei ein Kompliment, da man das als Kanzler brauche. „All diese Dinge wie kein Abitur, kein Studium, aus der Provinz sind für mich kein Makel, sondern Zuschreibungen, die ich mit der Mehrheit der Menschen teile“, sagt Schulz. Als Kanzler müsse man nicht nur Verständnis für die Sorgen der Menschen haben, „man muss sie mit voller Empathie spüren können, sonst ist man fehl am Platz“. Die Vorwürfe gegen ihn seien „arrogant und elitär“.

Einer klatscht da besonders stark. Er sitzt in der ersten Reihe und weiß, wie es ist, als provinziell abgestempelt zu werden: Kurt Beck. Schulz’ Vor-vor-vor-vor- Gänger als SPD-Chef ist angetan. „Das war glänzend“, lobt Beck die Rede. „Schulz weiß, wo er herkommt, er hat feste Bezüge und ein Profil.“ Ob er sich selbst ein wenig erkannt hat? „Nun, er hat einer gewissen Denkweise, die ich teile, nicht widersprochen, das stimmt.“

Schulz: "Die SPD muss auch Anwalt der Ängstlichen sein"

Doch Schulz singt nicht nur das Hohelied der Provinz. Seinen emotionalen Höhepunkt hat er an anderer Stelle, als er die SPD „zum Bollwerk gegen den wütenden Rassismus, Extremismus und Populismus“ erklärt. „Parteien wie der Front National in Frankreich hatten wir in Deutschland schon mal, und deshalb sind die Höckes, Gaulands, Petrys keine Alternative für Deutschland, sondern eine Schande für die Bundesrepublik.“ Doch es ist nicht nur die klare Abgrenzung, die den Zuhörern an Schulz gefällt. Es ist der Zweiklang, weil er auch sagt: „Wer die Freiheit und demokratische Grundordnung unter dem Deckmantel der Religion aushebeln will, wird die Härte der Sozialdemokratie und des Rechtsstaates zu spüren bekommen.“ Er fordert seine Partei auf, auch Anwalt der Leute zu sein, die „Ängste haben und sich fürchten“.

Vor einem muss die SPD jetzt keine Angst mehr haben – einem SPD-Chef, der nicht genau weiß, wo er hin will. Formal ist Sigmar Gabriel noch Vorsitzender. Er sitzt in der ersten Reihe, verschränkt die Arme, nickt oft, klatscht. Ob er einmal als Kanzlermacher statt als Kanzler in die SPD-Geschichte eingehen wird, ist noch offen. Schulz dankt seinem Freund für die Nominierung, aber vor allem dafür, dass „wir beieinander geblieben sind“. Er sei „ein toller Typ“. Applaus kommt auf, der freundlich ist, aber nicht aufbrausend. Zögerlich stehen viele auf. Gabriel ist gerührt. Erleichtert wirkt er, aber auch etwas müde angesichts der vergangenen Tage. Denn wie er seinen Coup in die Welt setzte und dass die Funktionäre aus der Presse davon erfuhren, hat ihm keine Sympathiepunkte gebracht. Das sei aber, so Teilnehmer, in der Sitzung der SPD-Führung kein Thema mehr gewesen. „Es überwog die Freude über den neuen Kandidat“, sagt ein Teilnehmer.

Die SPD blickt nach vorn. Und sie ist nachsichtig an diesem Tag. Auch ein Versprecher von Schulz wird weggelacht, als er Familienministerin Schwesig dafür loben wollte, Initiativen gegen rechts zu unterstützen und von „unterdrücken“ sprach. Alles nicht wichtig an diesem Tag. Für die Genossen geht es um Wiederbelebung, neuen Mut, neue Emotionen. Und die ersten Reanimationsmaßnahmen haben Wirkung gezeigt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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