zum Hauptinhalt
Das Abstimmen hat begonnen, der Countdown läuft. Hier ein Wahllokal in Smyrna, Georgia.

© Elijah Nouvelage, AFP

Dein oder mein Präsident?: Die Polarisierung der US-Bürger macht die Wahl zu einer Schlacht

Die Antipathie zwischen den Trump- und Biden-Anhängern ist enorm, und die Unversöhnlichkeit wächst. Damit wird das Land lange zu kämpfen haben. Ein Gastbeitrag.

- Daniel Benjamin ist seit Juli Präsident der American Academy in Berlin.

Die Tatsache, dass Joe Biden seinem Kontrahenten landesweit bei Umfragen mindestens zehn Prozentpunkte voraus zu sein scheint und in den kritischen Swing States deutlich führt, mag vielen Deutschen das Gefühl vermitteln, endlich aufatmen zu können. Ein Sieg Bidens bei der Präsidentschaftswahl am 3. November ist für viele hierzulande gleichbedeutend mit der Wiederherstellung der USA, die sie aus der Zeit vor Donald Trump kannten: nicht immer der perfekte Freund, aber einer, auf den man sich in kritischen Momenten verlassen kann.

Nach Bidens Amtseinführung würde wahrscheinlich zügig der Wiedereintritt der USA in das Pariser Klimaabkommen folgen, und die Arbeit am Wiedereintritt in den Atompakt mit dem Iran würde beginnen, trotz Widerstands der Republikaner. Niemand in einer Biden-Regierung würde jemals die EU als Feind der Vereinigten Staaten bezeichnen. Dennoch ist es ein Irrtum, anzunehmen, dass die USA mit einem Sieg Bidens automatisch wieder würden, wie sie einmal waren.

Ein Großteil der so offensichtlichen Spaltung der amerikanischen Gesellschaft, die in den vergangenen vier Jahren so viel Chaos und Leid verursachte, hat sich über Jahrzehnte hin entwickelt. Um es ganz offen zu sagen: Kein Wahlergebnis wird die Krise der amerikanischen Polarisierung beenden.

Die Auswirkungen dieser Polarisierung sind zahlreich. Unsere politischen Parteien sind schon lange keine „Großzeltorganisationen“ mehr, deren Mitglieder aus einer Mischung von Konservativen, Gemäßigten und Liberalen bestehen. Jetzt ist die Linke demokratisch, die Rechte republikanisch und die Mitte ist allzu oft ein Niemandsland. Geografisch gesehen haben wir jahrzehntelang eine große „Separation“ erlebt. Menschen, die politische Tendenzen teilten, zogen in Gebiete, die von Gleichgesinnten besiedelt waren.

In einem kürzlich hierzu erschienenen Artikel der „New York Times“ schrieb eine 50-jährige Demokratin aus Michigan: „Als wir Kinder waren, hatten wir viele Freunde, deren Eltern Republikaner waren. Ich weiß nicht, ob meine Kinder welche nennen könnten.“ Es scheint in der Tat so, als bewohnten Demokraten und Republikaner heute nicht nur unterschiedliche Bundesstaaten und Städte, sondern als lebten sie auch in unterschiedlichen Wahrnehmungswelten.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

In der Onlinewelt wählen sie Nachrichtenfeeds und Freundeskreise aus, die ihre Ansichten bekräftigen und auf keinen Fall herausfordern. Bei Fernsehsendern ist dies so deutlich spürbar, dass der konservative Nachrichtensender Fox News nach Auffassung von Wissenschaftlern wesentlich dazu beigetragen hat, Wählertendenzen hin zur Republikanischen Partei zu stärken und zahlreiche nichtpolitische Themen erheblich zu politisieren. Es wurde zum Beispiel wissenschaftlich nachgewiesen, dass Fox-Sendungen bei den Zuschauern dazu führen, dass sie das Tragen einer Maske ablehnen.

Seit Jahrzehnten untersuchen Meinungsforscher anhand vieler Fragen, wie sehr die politische Polarisierung das amerikanische Leben beeinflusst. Eine der interessantesten Fragen, die seit den 50er Jahren immer wieder gestellt wird, ist folgende: „Wenn Sie eine Tochter im heiratsfähigen Alter hätten, würden Sie es vorziehen, dass sie einen Demokraten oder einen Republikaner heiratet?“

Als das Meinungsforschungsinstitut Gallup diese Frage im Jahre 1958 das erste Mal stellte, antworteten 72 Prozent der Befragten, es sei ihnen egal. Heute antworten so nur noch 45 Prozent. Unter Befragten, die sich besonders mit ihren Parteien identifizieren, ist die Zahl derer, die wollen, dass ihre Kinder jemanden aus derselben Partei heiraten, auf 60 Prozent bei den Demokraten und 63 Prozent bei den Republikanern gestiegen. Hinter diesen Antworten verbirgt sich viel Antipathie, die über die vergangenen Jahrzehnte geschürt wurde.

Die Angst vor dem Verlust von Privilegien ist groß

Die Bedeutung dieses Problems zeigt sich in vielerlei Hinsicht. Durch die Nominierung der Richterin Amy Coney Barrett für den Obersten US-Gerichtshof verschärften sich zum Beispiel die öffentlichen Auseinandersetzungen zu den Themen Abtreibung und Gesundheitsfürsorge erheblich. Im November wird in einer Anhörung vor dem Gerichtshof über Obamacare debattiert, und Amy Coney Barrett, die am Montag ernannt wurde, wird daran teilnehmen.

Auch die nach dem Tod von George Floyd erstarkte Black- Lives-Matter-Bewegung steht für die tiefer werdende Spaltung der Gesellschaft. Rassismus und die damit einhergehende ungerechte Behandlung ethnischer Minderheiten sind häufig Auslöser der Polarisierungsproblematik in der amerikanischen Gesellschaft.

Die Spaltung der Parteien begann bereits mit der Bürgerrechtsgesetzgebung der 1960er Jahre, die in den Südstaaten zu einem Exodus von Demokraten aus ihrer Partei führte. Seitdem haben sich die Parteien gewandelt: Während die Demokratische Partei Minderheiten, einen überdurchschnittlich hohen Anteil der weiblichen Bevölkerung und Menschen mit einem akademischen Abschluss anzieht, ist die Republikanische Partei vorwiegend zur Heimat von Weißen geworden, insbesondere von weißen Männern, die nicht studiert haben, und von (ebenfalls weißen) evangelikalen Protestanten.

[Mit dem Newsletter „Twenty/Twenty“ begleiten unsere US-Experten Sie ab sofort täglich auf dem Weg zur Präsidentschaftswahl. Hier geht es zur kostenlosen Anmeldung: tagesspiegel.de/twentytwenty. ]

Wissenschaftler haben ausführlich dokumentiert, dass es bei der Wahl 2016 nicht nur um die Wut von Teilen der von der Globalisierung abgehängten weißen Bevölkerung ging. Eine Rolle spielten ebenfalls deren Ängste, erstmalig nach fast 250 Jahren auf einen Minderheitenstatus zuzusteuern, sowie die Befürchtung, dass Weiße weniger von den politischen Entscheidungen aus Washington profitieren könnten als andere Ethnien.

Wie wird die Krise der allgemeinen Polarisierung der US-Gesellschaft also weitergehen? Das Thema ist wichtig, denn in Amerika ist Politik zu einer massiven Belastung für das nationale Leben geworden.

Sehr viel hängt von der Wahl ab. Wenn Biden gewinnt, der Senat aber in republikanischen Händen bleibt, spricht vieles für eine anhaltende Lähmung der Regierung. Dies würde das Problem der Polarisierung weiter verschärfen, Wut und Frust würden irgendwann überkochen. Wenn dagegen die Demokraten den Senat, das Weiße Haus und – wie erwartet – das Repräsentantenhaus gewinnen, muss sich die Republikanische Partei einer echten Gewissensprüfung unterziehen. Sie könnte dann zu einer permanenten Minderheitspartei werden.

Doch wie auch immer die Wahl ausgehen mag, über Nacht wird sich nichts ändern. Amerikas Abrechnung mit seiner eigenen Spaltung könnte für einige Zeit nach innen gerichtet bleiben. Die USA können durchaus wieder eine Führungsrolle in globalen Angelegenheiten spielen. Aber so, wie man nie zweimal in denselben Fluss steigt, wird das Amerika, das aus der Polarisierungstortur hervorgeht, ein anderes sein, eines, das wir heute nur erahnen können.

Daniel Benjamin

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false