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Dass das deutsche Militär angesichts der aktuellen Lage wieder aufgerüstet werden soll, stößt auf Widerstand.

© IMAGO/Olaf Schuelke

Appell gegen deutsche Aufrüstungspläne: „Diese Politik zeugt so vom alten Denken, dass man sich die Augen reiben muss“

Rund 600 Menschen aus Kultur, Kunst, Wissenschaft und Politik protestieren gegen die Bundeswehraufrüstung. Auch Mitglieder der Regierungsparteien sind dabei.

Angesichts der russischen Bedrohung will die Ampelkoalition einen schuldenfinanzierten 100-Milliarden-Fonds anlegen und durch diesen auf Jahre hinaus Rüstungsvorhaben finanzieren, so der Plan. Das Kabinett hat den Entwurf bereits beschlossen, laut dem die Bundeswehr ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro erhalten soll, jetzt muss nur noch der Bundestag zustimmen.

Die massive Steigerung der Militärausgaben stößt keinesfalls nur auf positive Resonanz, im Gegenteil. Dass dieses Geld nun scheinbar mit Leichtigkeit aus dem Hut gezaubert werden könne, während für die Pflege, Schulen, Digitalisierung nie etwas da gewesen sei, kritisieren einige. Dass das Geld in den ineffizienten Strukturen der deutschen Armee und ihrer Verwaltung versickern werde, unken viele Fachleute.

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Wieder andere sind aufgrund der Historie Deutschlands dagegen, dass das Land mehr Geld in Rüstung investiert. „Nein zum Krieg! Demokratie und Sozialstaat bewahren - keine Hochrüstung ins Grundgesetz!“ lautet ein Appell, den jetzt rund 600 mehr oder wenige Prominente aus Politik, Kirchen, Wissenschaft, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen aus Kunst und Kultur pünktlich zur ersten Lesung gemeinsam verfasst haben.

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Der Protest richtet sich sowohl gegen das geplante Sondervermögen als auch gegen das Vorhaben, dauerhaft mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts für das deutsche Militär auszugeben.

„Die auf Jahrzehnte geplante Hochrüstung beendet das Sterben in der Ukraine nicht, macht unsere Welt nicht friedlicher und nicht sicherer“, heißt es in dem Appell. „Wir können sie uns im Namen der Zukunft nicht leisten.“

Zu den Mitinitiator*innen zählen insbesondere Politiker*innen der Parteien Die Linke und SPD. „Wir wissen, dass das durchgehen wird, wir sind ja nicht naiv“, sagt Mitinitiatorin und Mitglied des Bundesvorstands der Linken Julia Schramm im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

Eine Besatzung des Kampfpanzers Leopard 2 A7V pausiert während einer Übung auf dem Truppenübungsplatz.

© dpa/Philipp Schulze

„Trotzdem wollten wir unseren Protest darüber zum Ausdruck bringen und auch etwas Druck aufbauen. Zwei Jahre habe man um den Pflegebonus in Höhe von 1,5 Milliarden Euro kämpfen und auf dem Balkon klatschen müssen, erklärt sie verärgert.

„Und jetzt 100 Milliarden Euro einfach so locker aus der Hüfte, das ist eine Wahnsinnssumme, darüber muss anders diskutiert werden, gerade bei dieser vermeintlichen Fortschrittskoalition.“ Deutschland hat zum jetzigen Zeitpunkt den siebtgrößten Militärhaushalt der Welt, durch die Vergrößerung des Etats würde er auf Platz drei vorrücken.

Initiative will Protest zum Ausdruck bringen

„Was passiert mit all diesem Geld, wenn ich so haushalten würde wie die Bundeswehr, dann wäre ich pleite, und das zu Recht“, moniert Schramm. „Wenn Geld für Rüstung Freiheit bedeuten soll, dann frage ich mich, über wessen Freiheit wir hier eigentlich sprechen.“ Ein Sieg über Putin könne nicht nur militärisch sein, ist sie sich sicher.

„Dazu braucht es viel mehr.“ Froh und auch positiv überrascht sei sie darüber, dass so viele Menschen dem Appell auf Anhieb gefolgt seien.

Zu den Erstunterzeichner*innen gehören unter anderem der Bundestagsabgeordneten Gregor Gysi (Die Linke)und Jan Dieren (SPD), die Bundessprecherin der Grünen Jugend Sarah-Lee Heinrich, der frühere Grünen-Parteivorsitzende Hans-Christian Ströbele, etliche Gewerkschafter*innen wie das frühere DGB-Bundesvorstandsmitglied Annelie Buntenbach und der geschäftsführende IG-Metall-Chef Hans-Jürgen Urban.

Unterstützt wird der Appell ebenfalls von dem Kabarettisten Max Uthoff, den Musikern Sebastian Krumbiegel von den „Prinzen“ und Bela B. von den „Ärzten“, den Schauspieler*innen Katja Riemann, Corinna Harfouch, Annette Frier und Robert Stadlober, dem Schriftsteller Eugen Ruge und dem Journalisten Günther Wallraff.

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Auch die evangelische Theologin und frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland Margot Käßmann sowie der katholische Theologe und Mitglied des Ethikrats Andreas Lob-Hüdepohl unterzeichneten den Appell, dessen Verfasser*innen den russischen Überfall auf die Ukraine deutlich verurteilen.

Gleichwohl könne dieser Krieg und die fürchterlichen Bilder der Toten und Zerstörungen in der Ukraine „eine radikale Kursänderung in der deutschen Außenpolitik und die höchste Steigerung der deutschen Rüstungsausgaben seit dem Zweiten Weltkrieg – gar durch eine Grundgesetzänderung – nicht rechtfertigen.“

Die Verfasser*innen des Appells befürchten außerdem, dass eine massive Steigerung der deutschen Rüstungsausgaben in Kombination mit der Ankündigung der Bundesregierung, an der Schuldenbremse festzuhalten, massive Kürzungen, etwa im sozialen, im kulturellen oder im öffentlichen Bereich mit sich bringen könnte.

Unterzeichner*innen verurteilen russischen Überfall auf die Ukraine

Zudem vermissen sie eine demokratische Diskussion über ein umfassendes Sicherheitskonzept, das Sicherheit vor militärischen Angriffen ebenso einschließe wie pandemische und ökologische Aspekte. Nicht Hochrüstung, sondern Sicherheit und soziale Gerechtigkeit seien Auftrag des Grundgesetzes.

Er empfinde es als ungeheuer bedrückend, wie befreit das politische Berlin nun den Mantel der Geschichte abwerfe, um mit der militärpolitischen Zurückhaltung Deutschlands endgültig abzuschließen, erklärt der Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung Stephan Lessenich seine Unterstützung des Appells.

„Diese Politik zeugt so sehr vom alten Denken, dass man sich wirklich die Augen reiben muss: Was hat Deutschland eigentlich nicht einmal nur aus dem Nationalsozialismus, sondern z.B. aus dem Jugoslawien-Krieg und der eigenen Rolle darin gelernt. Offenkundig: nichts.“

„Die Diagnose ist so verquer, dass öffentlicher Widerspruch nötig ist“

Auch der allgemeine Konsens darüber, dass sich die Bundeswehr kaputtgespart habe, verwundere ihn, sagt er dem Tagesspiegel. „Dies widerspricht so offensichtlich den Etatansätzen im Bundeshaushalt, die Diagnose ist so verquer, dass öffentlicher Widerspruch nötig ist.

Offensichtlich ist es auch für niemanden mehr Thema, dass das Feld der Militärausgaben und Rüstungsaufträge der prototypische Sektor von Industrielobbyismus und Extraprofiten ist.“

Margot Käßmann sähe die 100 Milliarden Euro zukunftsfähiger und nachhaltiger in zivilen Friedensdiensten, Mediation, Aufbau von Landwirtschaft und Bildung investiert.

„Ich bin als Christin zutiefst überzeugt, dass mehr Waffen nicht mehr Frieden bringen. Der Friede auch in der Ukraine wird so schnell wie möglich kommen müssen, um das entsetzliche Leid zu beenden. Und er wird nur durch Diplomatie, eine Verhandlungslösung erreicht werden.“

Linken-Grande Gregor Gysi ist der Ansicht, dass nicht die Menge des Geldes, sondern die Art der Verwendung ausschlaggebend sei. Die NATO gebe jährlich etwa das 20-fache für Armeen und Rüstung aus wie Russland - und habe den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht verhindert.

„Wie kann man auf die Idee kommen, dass der 25-fache oder 30-fache Betrag die Gefahr reduzierte? Ich hoffe auf ein schnelles Ende des Krieges. Danach müssen wir wieder zu Abrüstung, Deeskalation, Diplomatie, zum Interessenausgleich und unbedingt zum Völkerrecht zurückkehren, und zwar alle Seiten.“

„Wir werden noch weitaus schärfere Sanktionen beschließen müssen“

Auch ihr mache die aktuelle Situation Angst, sagt die Sprecherin der Grünen Jugend Sarah-Lee Heinrich dem Tagesspiegel. Diese Verunsicherung solle aber nicht dazu genutzt werden, große politische Entscheidungen ohne jegliche Debatte durchzudrücken, begründet sie ihre Unterstützung des Appells. „Statt Hauruck-Aktionen, in denen Milliarden aus dem Hut gezaubert werden, brauchen wir eine breite gesellschaftliche Debatte über ein umfassendes Sicherheitskonzept.“ Dazu gehörten Fragen von Energiesicherheit und humanitärer Hilfe genauso wie die Absicherung gegen soziale Härten.

„Die Preise steigen und wir werden noch weitaus schärfere Sanktionen gegen Putin beschließen müssen, die auch uns treffen. Das wird politisches Handeln und eine starke soziale Absicherung erfordern. All das ist Sicherheitspolitik und deswegen müssen wir über weit mehr reden als den Wehretat.“

Ähnliche Befürchtungen äußert der Unterzeichner und Arbeitsrechtsprofessor Wolfgang Däubler: „Mehr Rüstung verhindert keine Kriege. Wäre die Bundeswehr doppelt so gut ausgestattet gewesen wie heute - hätte das irgendeinen Einfluss auf den Ukraine-Krieg gehabt? Und weiter: Die 100 Milliarden fehlen an anderer Stelle: Weniger Bekämpfung des Klimawandels, weniger Bildung, weniger Sozialleistungen.“

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