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Lässt sich nicht beirren. Türkeis Präsident Recep Tayyip Erdogan.

© Reuters

Diskussion um Völkermord: Die Armenien-Frage offenbart Erdogans Schwäche

Die Türkei will nicht von Völkermord sprechen, wenn es um Armenien geht. Das hat nicht nur mit Nationalstolz zu tun. Ein Grund ist auch: Präsident Recep Tayyip Erdogan ist inzwischen selbst in seiner eigenen Partei umstritten. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Thomas Seibert

Hinter der Ablehnung des Begriffs „Genozid“ durch die türkische Führung verbirgt sich ein grundsätzliches Problem. Ankara ist nicht bereit, der Wahrheit ins Auge zu sehen, dass die osmanische Regierung im Jahr 1915 beim Umgang mit den Armeniern schwere Schuld auf sich lud. Ob das nun Völkermord genannt wird oder nicht: Mit dieser historischen Schuld muss sich das Land befassen. Darum geht es.

Die offizielle Türkei will das zurzeit nicht zulassen. Präsident Recep Tayyip Erdogan und auch die großen Oppositionsparteien relativieren die Taten als patriotisch motivierte Entscheidungen zur Rettung des Vaterlandes. Von Versagen, Schuld oder Verbrechen ist keine Rede. Erdogans Partei AKP begreift die Armenier-Debatte zudem als Angriff auf die Türkei.

Das Land bräuchte einen offenen Meinungsaustausch

Dasselbe Argument führt die AKP ins Feld, wenn es um die Gezi-Proteste oder die Korruptionsvorwürfe geht. In diesem Weltbild riecht fast jede Kritik an der Regierung nach Landesverrat. Erdogan persönlich geht mit Hilfe seiner Anwälte gegen Journalisten, Aktivisten und sogar gegen Schüler vor, die ihn bei kritischen Äußerungen beleidigt haben sollen.

Dabei braucht das Land den Meinungsaustausch, gerade wenn dabei Dinge gesagt werden, die den Mächtigen nicht recht sind. Transparenz und Kritikfähigkeit sind wichtige Bestandteile einer Republik, die sich weiterentwickeln will. Das Ziel der Weiterentwicklung haben sich Erdogan und die AKP zwar auf die Fahnen geschrieben. Doch seit einigen Jahren vermitteln sie den Eindruck, als wollten sie dieses Ziel ohne Debatten erreichen. Das kann nicht funktionieren.

Selbst AKP-Loyalisten wie der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül beklagen einen Verlust an Offenheit und Reformbereitschaft im Land. Zementierung und, wenn möglich, Ausbau der Macht sind für die Regierung inzwischen wichtiger als die Modernisierung der Demokratie, lautet der Vorwurf.

Das war in der ersten Phase der Ära Erdogan anders. Es gab mal eine Zeit, in der sich der heutige Präsident einen Namen als entschlossener Reformer machte. Im vergangenen Jahrzehnt erweiterte die AKP-Regierung unter Erdogan die Meinungsfreiheit – und beseitigte unter anderem strafrechtliche Hürden für die Diskussion über den armenischen Völkermord. Es ist der AKP zu verdanken, dass in der Türkei das Wort vom Genozid inzwischen ohne das Risiko einer Verurteilung wegen „Beleidigung des Türkentums“ benutzt werden kann. Europäische Normen dienten der Erdogan-Partei damals als Maßstab. Heute ist das nicht mehr so.

Die AKP könnte schlechter abschneiden als 2011

Kürzlich setzte die AKP im Parlament zum Entsetzen von Menschenrechtlern und Europarat ein Sicherheitsgesetz durch, das erweiterte Polizeibefugnisse bei Demonstrationen, Festnahmen und Durchsuchungen vorsieht. Seinen Plan zur Einführung eines Präsidialsystems begründet Erdogan vor allem mit der höheren Effizienz durch eine Konzentration von Befugnissen. Kritiker befürchten nun aber den Aufbau einer „konstitutionellen Diktatur“ in der Türkei.

Allerdings gibt es inzwischen bis weit in die AKP-Basis hinein Zweifel an Erdogans Kurs. Güls Äußerung ist nur ein Beispiel dafür. Nach derzeitigem Stand der Dinge wird die AKP bei der Parlamentswahl am 7. Juni deutlich unter ihrem Ergebnis von 2011 bleiben, als sie fast 50 Prozent erreichte. Dass Erdogan im neuen Parlament genügend Unterstützer für die Einführung des Präsidialsystems finden wird, ist unsicher. Erdogan sollte sich fragen, warum das so ist.

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