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Begrüßung in Passau: Eine Helferin spricht im Herbst 2015 am Bahnhof mit syrischen Flüchtlingen.

© Armin Weigel/dpa

Ein Jahr "Wir schaffen das": Ein Jahr ist jetzt geschafft

Der Zuzug von Flüchtlingen hat Deutschland zum Einwanderungsland gemacht und erfordert eine neue Flüchtlings- und Integrationspolitik. Was ist bisher erreicht?

Fast ein Jahr nach der Entscheidung der Bundesregierung, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, ist unklar, wie viele Flüchtlinge genau nach Deutschland gekommen sind – offenbar sind es aber weniger als zunächst angenommen: Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) geht inzwischen davon aus, dass die Zahl unter einer Million liegt.

Warum sind die Zahlen so unklar?

Angesichts der teilweise chaotischen Zustände im vergangenen Herbst und Winter wurden einige Flüchtlinge offenbar mehrfach erfasst, andere zogen später in andere Staaten weiter. Auch sind nicht alle Flüchtlinge, die seit September 2015 zu uns kamen, zentral registriert. Viele wurden nach ihrer Ankunft ohne Registrierung direkt in einzelne Bundesländer und von den dortigen Erstaufnahmen auf Kommunen verteilt, andere kamen bei Verwandten oder Bekannten unter. Dort wurden ihre Daten schließlich aufgenommen, doch nicht immer auch an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) weitergegeben.

Was ist aus den Flüchtlingen geworden?

Viele Flüchtlinge leben noch immer in Notquartieren, manche haben aber auch schon eigene Wohnungen gefunden. Fast die Hälfte von ihnen weiß noch nicht, ob und wie lange sie in Deutschland bleiben dürfen. Seit Oktober 2015 fällte das Bamf nur etwa 450.000 Asyl-Entscheidungen. Bearbeitungstakt und Mitarbeiterzahl beim Bamf sind zwar deutlich erhöht, doch rund 530.000 Asylanträge werden derzeit noch bearbeitet; und mindestens 100.000 Geflüchtete müssen ihren Antrag erst noch stellen, vielleicht sogar doppelt so viele.

Etwas weniger als 50 Prozent der Antragsteller, die schon einen Bescheid vom Bamf haben, wurden als Flüchtlinge anerkannt. Zehn Prozent erhielten entweder den sogenannten subsidiären Schutz für zwei Jahre und ohne Nachzug von Familienangehörigen – oder eine vorübergehende Duldung, etwa, weil sie aus gesundheitlichen Gründen nicht abgeschoben werden können. Damit liegt die Schutzquote insgesamt bei rund 60 Prozent. Die Übrigen müssen Deutschland verlassen. Doch nur etwa 45.000 Menschen gingen bisher freiwillig, ungefähr 16.000 wurden abgeschoben.

Ein Teil der Flüchtlinge hat schon Arbeit gefunden. Die Beschäftigung von Arbeitnehmern aus den wichtigsten Asylherkunftsländern stieg im Laufe des letzten Jahres um 31 Prozent – auf knapp 100.000 im Mai 2016. Aber auch die Arbeitslosigkeit in dieser Personengruppe verdoppelte sich seit letztem Jahr: Im Juli waren 15.000 Personen aus diesen Ländern ohne einen Job.

Was ist mit den vielen unbegleiteten Minderjährigen?

Die Jugendämter, die sich um die Minderjährigen kümmern müssen, sind oft überlastet. Gerade erst schreckte ein Zahl die Öffentlichkeit auf: 8991 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge seien nach ihrer Einreise verschwunden, berichtete das BKA. Sie dürften aber nicht Opfer von Verbrechen geworden sein: Die Mehrzahl sei wohl zu Eltern oder Verwandten weitergereist, viele auch ins Ausland, ohne dass sie sich offiziell abgemeldet hätten. In Bayern, wo zeitweise fast 4500 minderjährige Flüchtlinge registriert waren, ist nicht ein einziger Fall aktenkundig, bei dem ein allein reisendes Kind zum Opfer eines Verbrechens wurde.

Flüchtlinge jubeln am 5. September 2015 bei ihrer Ankunft auf dem Hauptbahnhof in München.
Flüchtlinge jubeln am 5. September 2015 bei ihrer Ankunft auf dem Hauptbahnhof in München.

© Sven Hoppe/dpa

Welche wirtschaftlichen Folgen hat der Zuzug?

Wirtschaftlich könnte Deutschland vom Flüchtlingszustrom profitieren, meinen Ökonomen. Die Wirtschaftsweisen rechnen allein 2016 zwar mit Ausgaben von neun bis 14,3 Milliarden Euro für Flüchtlinge. Die Großbank Unicredit geht aber davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt dank des Zuzugs bis 2020 um 1,7 Prozent steigen könnte.

Schon jetzt machen viele Unternehmen mit dem Zuzug der Geflüchteten gute Geschäfte: Betreiber der Flüchtlingsunterkünfte, Hersteller von Wohncontainern, die Caterer, die Sprachlehrer, die Sicherheitsdienste. Sie alle nehmen dank der Versorgung der Flüchtlinge Geld ein und schaffen neue Arbeitsplätze. Auch in den Behörden wurden neue Stellen geschaffen. Der Markt für Sozialarbeiter ist praktisch leer, auch deutlich mehr Lehrer und Erzieher werden gebraucht. Der Deutsche Städtetag verzeichnet ein wachsendes Interesse von Investoren im Bausektor: Die Baugenehmigungen seien im Vergleich zum Vorjahr um rund 30 Prozent gestiegen, sagte eine Sprecherin dem Tagesspiegel.

Könnte dieser Trend langfristig anhalten?

Das hängt davon ab, wie gut die Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Nur dann sinken die Ausgaben des Staats und nur dann profitieren auch die Unternehmen, die gerade dringend Fachkräfte suchen. Und mit eigenen Einkommen können die Menschen mehr Geld für Kleidung, Möbel und Elektronikgeräte ausgeben. Ökonomen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung meinen: „Gelingt es, auch nur einen Teil der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren, zahlt sich die Investition aus.“

Was wurde zur Förderung der Integration getan?

In Deutschland wird schon lange über ein Zuwanderungsgesetz gestritten. Jetzt hat die Regierung immerhin ein Integrationsgesetz erlassen. Darin wird geregelt, dass Flüchtlinge früher arbeiten können und so lange in Deutschland bleiben dürfen, bis sie ihre Ausbildung beendet haben. Wenn sich ein Flüchtling auf eine Stelle bewirbt, muss die Arbeitsagentur nicht mehr prüfen, ob es auch einen geeigneten deutschen Bewerber gibt. Flüchtlinge müssen sich aber dort ansiedeln, wo es genug Wohnraum und Arbeitsplätze gibt: Es gilt eine Residenzpflicht. So sollen neue soziale Brennpunkte und Gettos in den Großstädten verhindert werden.

Ein „Investitionspakt“ für sozial schwache Viertel sieht 200 Millionen Euro für den Ausbau von Kitas, Schulen und Volkshochschulen vor. Der Bund zahlt den Ländern in den nächsten beiden Jahren auch jeweils 500 Millionen Euro zusätzlich für den sozialen Wohnungsbau.

Viele Turn-, Stadt- und Messehallen, hier in Erfurt, wurden für die erste Unterbringung von Flüchtlingen hergerichtet.
Viele Turn-, Stadt- und Messehallen, hier in Erfurt, wurden für die erste Unterbringung von Flüchtlingen hergerichtet.

© Martin Schutt/dpa

Wie haben Schulen und Hochschulen reagiert?

Allein in Berlin sind bereits über 11.000 Flüchtlingskinder an den Schulen untergebracht worden. Bundesweit wird für dieses Jahr laut Nationalem Bildungsbericht für die Grundschulen mit zusätzlich bis zu 53.000 Schülerinnen und Schülern gerechnet, im Sekundarbereich I mit bis zu 67.300 und für die Ausbildungsvorbereitung noch einmal mit bis zu 88.000. Die Kultusministerkonferenz geht davon aus, dass dafür 20.000 neue Lehrkräfte benötigt werden. Berlin wollte Flüchtlingskinder nur sechs bis zwölf Monate in Willkommensklassen unterrichten und dann in Regelklassen übernehmen – jetzt kann die Zeit verlängert werden.

Fast alle Hochschulen haben sich geöffnet und bieten bundesweit Gasthörerschaften und Sprachkurse an. An den Berliner Unis bereiten sich jeweils bis zu 100 Eingewanderte auf ein reguläres Studium vor. Das Bundesbildungsministerium fördert die Integration mit rund 100 Millionen Euro. Laut der Service-Agentur Uni-Assist, die die Bewerbungen internationaler Studierwilliger prüft, haben sich für das Wintersemester mehr als 3000 Syrer um einen regulären Studienplatz beworben.

Wie viel Gewalt gibt es gegen Flüchtlinge?

Auch 2016 bleibt die Zahl der Angriffe auf Unterkünfte von Asylbewerbern hoch: Das Bundeskriminalamt bekam von Januar bis Juli von der Polizei 665 einschlägige Delikte gemeldet – 613 davon „rechtsmotiviert“. Darunter waren 118 Gewaltdelikte und 55 Brandstiftungen. 2015 gab es 1031 Angriffe, davon wurden 923 Neonazis und anderen rechten Tätern zugeordnet. 2014 hatte die Polizei „nur“ 199 Attacken auf Unterkünfte von Flüchtlinge gezählt, 2013 waren es 69. Die im vergangenen Jahr gekommenen Asylbewerber sind inzwischen auf das ganze Land verteilt – damit gibt es in nahezu jedem Ort der Bundesrepublik eine „Angriffsgelegenheit“ für Flüchtlingshasser.

Wie kriminell sind Flüchtlinge?

Spektakuläre Delikte wie die Anschläge in Würzburg und Ansbach sowie die sexistischen Krawalle in der Silvesternacht in Köln sorgen für Angst vor Flüchtlingen. Doch die Realität ist eine andere: „Der weitaus größte Teil der Zuwanderer beging keine Straftaten“, schreibt das BKA in einem Lagebericht. Registriert wurden von Januar bis März bundesweit 69.000 Delikte von Flüchtlingen – das ist gegenüber 2015 ein Rückgang um 18 Prozent. Bei 29 Prozent handelte es sich um Diebstähle. Es folgen Vermögens- und Fälschungsdelikte sowie Schwarzfahren mit 28 Prozent. Gewaltdelikte betrugen 23 Prozent, neun Menschen wurden getötet – acht der Opfer waren Flüchtlinge.

Laut BKA gibt es 400 Hinweise auf mutmaßliche Kämpfer und Terrorunterstützer unter Flüchtlingen. Bislang habe sich kein Hinweis bestätigt.

Wie werden traumatisierte Flüchtlinge betreut?

Offenbar sind bis zu 40 Prozent der in Deutschland lebenden Flüchtlinge psychisch labil, etwa 20 Prozent halten Experten für so schwer traumatisiert, dass sie professionelle Hilfe benötigen – das wären bis zu 200.000 Menschen. Es gibt viel zu wenige Therapeuten für sie und Flüchtlinge haben nur eingeschränkt Zugang zum deutschen Gesundheitssystem. Psychologische Hilfe erhalten Flüchtlinge vor allem in 32 psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer, die sich über Spenden und Projektförderung finanzieren. Nach Auskunft der Zentren waren ihre 130 Therapeuten allerdings schon vor der aktuellen Zuwanderung überlastet. 2016 erhielten sie über ein Akutprogramm der Bundesregierung drei Millionen Euro zusätzlich. Aktuell betreuen sie 14.500 Patienten, nur 5200 aber mit einer klassischen Psychotherapie.

Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung?

Die politische Debatte wird überall vehement geführt. Dem gemäßigten rechten Spektrum hat die Flüchtlingskrise Auftrieb gegeben: So hat sich die AfD, die 2015 in Umfragen Zustimmungsraten von rund 6 Prozent erhielt, inzwischen stabil auf zweistelligem Niveau eingependelt. Bei den Wahlen in Baden-Württemberg erhielt sie 15,1 Prozent, in Sachsen-Anhalt 24 Prozent. Für rechtspopulistische Parteien und eine restriktive Flüchtlingspolitik sprechen sich überwiegend Männer aus.

Andererseits ist die Einsatzbereitschaft ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer in Deutschland unverändert hoch. Besonders Sprachkurse profitieren davon, gefolgt von Behördengängen sowie Geld- und Sachspenden. Zwei Drittel der für eine Studie des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung an der Humboldt-Uni im November und Dezember 2015 befragten 2291 Ehrenamtlichen engagieren sich erst seit dem Sommer 2015 für Geflüchtete, sind aber bereit, kontinuierlich dabeizubleiben. Drei Viertel von ihnen sind Frauen.

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