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Pro. Und Contra. Der Bürgerrat soll die Politik näher an die Bürger bringen. Kritiker sagen: Das ist undemokratisch.

© Getty Images/iStockphoto/Artis777

„Eine scheindemokratische Veranstaltung“: Schadet der Bürgerrat der Demokratie?

Deutschland hat seinen ersten, vom Parlament eingesetzten Bürgerrat. 160 Bürger diskutieren, wie sehr der Staat in die Ernährung eingreifen darf. Manch einer findet das Prinzip fragwürdig.

Christina Stumpp packt die ganz große Keule aus: „Sie, liebe Ampel, treten die Prinzipien unserer repräsentativen Demokratie mit Füßen.“ Es ist Mittwochabend, gegen 18.30 Uhr, die stellvertretende CDU-Generalsekretärin steht am Rednerpult des Deutschen Bundestags. Das Parlament diskutiert gerade über den vorletzten Punkt der Tagesordnung. Und der galt eigentlich als bereits beschlossene Sache. Plötzlich wird die Debatte doch noch mal hitzig.

Die Abgeordneten sollen darüber abstimmen, ob sie den ersten, vom Bundestag eingesetzten Bürgerrat einberufen wollen. 160 zufällig geloste deutsche Staatsbürger:innen, die zu einer gesellschaftspolitischen Frage diskutieren. Diesmal soll es ums Essen gehen. Und um die Frage, inwiefern der Staat in die Ernährung seiner Bürger:innen eingreifen sollte.

Die Frage, über die sich die Politiker:innen am Mittwoch im Plenarsaal streiten, ist aber eine ganz andere: Machen Bürgerräte Deutschland demokratischer? Oder hebeln sie, ganz im Gegenteil, das Prinzip der parlamentarischen Demokratie aus?

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Stimmungswechsel in der Union

Lange waren Bürgerräte ein Projekt von CDU-Politiker Wolfgang Schäuble. Jahrelang hatte er dafür geworben, wie wichtig sie seien, um die Bindung zwischen Wählern und Gewählten zu stärken. Auch andere Stimmen aus der CDU sprachen sich für das Konzept aus. Jetzt regieren die anderen, die Ampelparteien, aber auch sie sind dafür. In ihrem Koalitionsvertrag schrieben sie fest, zur Verbesserung der Entscheidungsfindung Bürgerräte einrichten zu wollen. Eigentlich waren sich also alle einig.

Unser Bürgerrat ist der Wahlkreis.

Steffen Bilger, CDU-Bundestagsabgeordneter

Jetzt hat die Union ihre Meinung offenbar geändert. In einem internen Dokument, das dem Tagesspiegel vorliegt, stellt sich die Fraktion explizit gegen Bürgerräte. Eine solche Einsetzung sei überflüssig, „da es mit den bestehenden Instrumenten der repräsentativen parlamentarischen Demokratie bereits hinreichend Möglichkeiten zur Bürgerbeteiligung gibt“, heißt es darin.

In der Bundestagsdebatte am Mittwoch wurde der Ton noch schärfer. Nicht nur Stumpp, sondern auch andere Redner ihrer Fraktion, wie Steffen Bilger, betonten: „Unser Bürgerrat ist der Wahlkreis.“ Die Arbeit, die dieses Gremium machen sollen, sei die Arbeit des Parlaments, der Abgeordneten. Bürgerräte seien überflüssig, undemokratisch, teuer.

Die Regierungsfraktionen halten dagegen, für sie ist das neue Gremium vor allem eine Chance. Eine Chance zum Beispiel, „die Perspektiven derjenigen zu Gehör zu bringen, die sich verabschiedet haben von der Demokratie oder deren Stimmen kein Gehör finden“, wie der SPD-Abgeordnete Helge Lindh sagte. Am Ende der Debatte stimmen SPD, FDP, Grüne und Linke für die Einsetzung des Bürgerrates, CDU/CSU und AfD dagegen. Der erste Bürgerrat ist damit beschlossene Sache.

Aber was ist er nun, Chance oder Gefahr für die parlamentarische Demokratie? Auch Expert:innen sind sich uneins. Für Patrizia Nanz, Leiterin des Laboratoriums Beteiligende Verwaltung am Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE), sind Bürgerräte eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie.

Andere Beispiele zeigen: Bürgerräte funktionieren

Sie könnten, anders als die oft polarisierte parteipolitische Diskussion, „kontroverse Themen wie Abtreibung oder Klimaschutz grundsätzlich und offen bearbeiten, und damit verhärtete gesellschaftliche Fronten auflösen“. Internationale Beispiele haben, sagt Nanz, in der Vergangenheit gezeigt, dass das funktionieren kann. In Irland hat man infolge eines Bürgerrates Schwangerschaftsabbrüche erlaubt.

Christoph Degenhart, emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Leipzig, sieht das anders. Für ihn bedeuten Bürgerräte keine Stärkung, sondern eine Schwächung der Demokratie. „Je mehr Bedeutung den Empfehlungen dieses Gremiums zugemessen wird, desto mehr gerät das Projekt in Konflikt mit dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie“, sagt Degenhart.

Die Mitglieder des Bürgerrats sind nicht gewählt, haben keine demokratische Legitimation. Der Bürgerrat sei deshalb eine scheindemokratische Veranstaltung, der Zweifel am Parlament nicht beseitigen werde. „Die Abgeordneten selbst müssen das Vertrauen in die Demokratie durch ihr Handeln stärken.“

Thorsten Sterk vom Verein Mehr Demokratie sieht die Stärke dieses Instruments nicht im einzelnen Bürgerrat, sondern in der Summe. „Wenn immer wieder unterschiedliche 160 Menschen zu verschiedenen Themen diskutieren und sich das Prinzip verstetigt, bringt es mehr Diversität in unsere Demokratie.“ Mehr Demokratie wird das neue Gremium für den Bundestag organisieren.

Demokratie per Auslosung

Sterk erklärt auch, wie genau der neue Bürgerrat „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“ nun funktionieren wird. 20.000 Staatsbürger erhalten per Losverfahren eine Einladung. Die Auswahl danach ist nicht mehr ganz zufällig: Wer die Einladung annimmt, muss Angaben zu seiner Person, etwa Alter, Geschlecht, Bildungsgrad – und dieses Mal auch Essverhalten – machen.

„Die 160 Menschen werden so ausgewählt, dass sie ein repräsentatives Abbild der Gesellschaft darstellen“, sagt Sterk. Sie bilden den neuen Bürgerrat. Bei insgesamt neun Treffen hören sie Vorträge und diskutieren in Kleingruppen. Es könnte zum Beispiel darum gehen, ob der Bund Veggie-Tage an Schulen einführen dürfe oder ungesundes Essen stärker besteuert werden solle.

Am Ende erarbeiten sie Handlungsempfehlungen für den Bundestag. Was der damit macht, entscheidet er selbst – alle Empfehlungen sind unverbindlich. Damit liegt die Verantwortung am Ende doch wieder an dem Ort, um dessen Repräsentanz und Relevanz sich manch einer sorgt: im Parlament.

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