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Die Energieversorgung der Zukunft ist ungewiss.

© dpa-tmn

Auf der Suche nach neuen Handelspartnern: Europa sollte die Welt nicht in „Freund“ und „Feind“ aufteilen

Um die Abhängigkeit von Russland und China abzubauen, braucht es neue Beziehungen. Die können nur ohne aufoktroyierte Werte geknüpft werden. Ein Gastbeitrag.

Ein Gastbeitrag von Veronika Grimm

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Veronika Grimm, Professorin für Volkswirtschaft an der FAU-Universität Erlangen-Nürnberg und seit 2020 Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Weitere AutorInnen sind Sigmar Gabriel, Günther H. Oettinger, Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup. Prof. Dr. Renate Schubert und Jürgen Trittin.

Die aktuelle Bedrohung durch einen russischen Gas-Lieferstopp dominiert die politische Debatte. Horrorszenarien werden an die Wand gemalt, sogar Massenarbeitslosigkeit und Gelbwestenproteste herbeigeredet. Die aufgeregten Bedrohungsszenarien überdecken – gewollt oder ungewollt – einige der Herausforderungen, die ohnehin auf uns zukommen.

Wir stehen am Beginn eines Jahrzehnts, in dem wir bei hohen Energiepreisen, einem Krieg in Europa, Rohstoffengpässen, Fachkräftemangel und Inflation den wohl radikalsten Umbau der Wirtschaft gestalten müssen, den die Menschheit seit der Industrialisierung erlebt hat.

Trotz dieser unmittelbaren Herausforderungen kommt es jetzt darauf an, mit Weitblick neue Weichenstellungen vorzunehmen. Dabei müssen wir insbesondere unsere Partnerschaften und Handelsbeziehungen überdenken. Denn der Angriff Russlands auf die Ukraine beschleunigt die Erosion der regelorientierten Weltordnung und damit die Basis der Globalisierung.

Verteidigung bekommt eine neue Priorität

An deren Stelle tritt zunehmend eine machtbasierte Weltordnung, in der das Recht des Stärkeren gilt. Wir müssen also gewappnet sein, unsere Freiheit zu verteidigen. Verteidigungsfähigkeit bekommt eine neue Priorität – bei den Staatsausgaben, aber auch in den Köpfen der Menschen. Für die Verteidigungsfähigkeit spielen neben der Armee auch ökonomische Stärke sowie die Resilienz von Wirtschaft und Gesellschaft entscheidende Rollen.

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Klar ist, dass wir unsere Beziehungen zu Russland radikal neu ordnen müssen. Auch China ändert seine Strategie gegenüber dem Westen, teils unter dem Deckmantel der Corona-Pandemie. Deshalb müssen wir unsere Abhängigkeit von Experten nach China und von weiterverarbeiteten kritischen Rohstoffen, die wir von dort beziehen, verringern.

Woher beziehen wir künftig Gas?

Am Zugriff auf kritische Rohstoffe hängt beispielsweise das Gelingen der Transformation zur Klimaneutralität. Das alles wird die Kostenstrukturen in Deutschland verändern. Energieunabhängigkeit von Russland etwa bedeutet: Die Preise fossiler Energieträger, insbesondere von Gas, werden mittelfristig nicht auf das ursprüngliche Niveau zurückkehren.

In dieser schwierigen Gemengelage stehen nun herausfordernde Entscheidungen an. Unumstritten ist, Erneuerbare Energien und die notwendigen Transportinfrastrukturen schnellstmöglich auszubauen. Dabei müssen wir europäisch denken, um gemeinsam das größtmögliche Potenzial für die Energiesicherheit des Kontinents zu heben.

Wir stehen aber auch vor einer umfassenden Transformation der Industrie und der konventionellen Stromerzeugung, die auf Gas als Brückentechnologie setzt. Das ist deutlich herausfordernder.

Woher beziehen wir künftig Gas und zu welchem Preis? Sollen wir tatsächlich schon gegen 2030 aus der Kohleverstromung aussteigen? Wer baut die dann nötigen Gaskraftwerke? Und woher kommt der klimaneutrale Wasserstoff, der das Gas auf Dauer ablösen soll? Hier werden wir auf umfangreiche Importe angewiesen sein.

Den Import erneuerbarer Energieträger einleiten

Reist man etwa nach Australien, Norwegen oder den Nahen bzw. Mittleren Osten, lernt man: Diese Länder können uns künftig erneuerbare Energien liefern, in Form von Wasserstoff oder darauf basierenden Energieträgern, per Schiff oder Pipeline. Hinzu kommt: Kapitalgeber stehen bereit, um Großprojekte und den Aufbau der Transportpfade zu finanzieren. Aber all das wird nur in Gang kommen, wenn wir langfristige und großvolumige Lieferverträge abschließen.

Es müssen also weitreichende Entscheidungen getroffen werden, um den Import erneuerbarer Energieträger einzuleiten. Um die anfängliche Lücke zwischen den Beschaffungskosten klimafreundlichen Wasserstoffs und den Zahlungsbereitschaften europäischer Abnehmer zu schließen, wird staatliche Unterstützung nötig sein. Das gilt auch für die Anbahnung und Absicherung der Verträge.

Der politische Druck in Sachen Energiesicherheit steigt.
Der politische Druck in Sachen Energiesicherheit steigt.

© dpa/Axel Heimken

Neben Ländern, die statt heute fossiler Energie künftig erneuerbare Energieträger exportieren wollen, gibt es andere, die prädestiniert für den Export erneuerbarer Energien sind, etwa in Afrika oder Südamerika. Um viele neue Energiepartnerschaften aus- und aufbauen zu können, ist europäische Kooperation unabdingbar.

Denn jede Partnerschaft muss einhergehen mit der Vereinbarung großer Importmengen, um Skaleneffekte zu nutzen und die Energiekosten niedrig zu halten. Diversifikation der Lieferbeziehungen einzelner europäischer Staaten gelingt besser bei gemeinsamer Beschaffung im Verbund und entsprechend größerer Nachfrage.

Wir können uns nicht nur auf "freundliche" Staaten verlassen

Es gibt also bei der Energieversorgung ein beträchtliches Potenzial, unsere Abhängigkeiten abzubauen. Werden wir uns dabei auf „freundliche“ Staaten konzentrieren können? Erhebliche Zweifel sind angebracht. Während in den westlichen Industriestaaten 1950 noch fast 29 Prozent der Weltbevölkerung lebten, waren es 1998 nur noch 18 Prozent. Im Jahr 2050 werden Europa und Nordamerika weniger als zwölf Prozent der Weltbevölkerung beherbergen.

Wollen wir uns wirklich von einem Großteil der Welt entkoppeln und neben wirtschaftlichen Verlusten auch Macht und Einfluss verlieren? Das könnte letztlich dazu führen, dass geopolitische Krisen und Konflikte wahrscheinlicher werden.

Die Einteilung der Welt in „Freund“ und „Feind“ ist zudem zu statisch gedacht und ignoriert die Vielschichtigkeit zwischenstaatlicher Beziehungen. Statt uns abzukoppeln sollten wir im Gegenteil einseitige Abhängigkeiten durch die Diversifikation unserer Handelsbeziehungen reduzieren und es für möglichst viele Staaten attraktiv machen, mit uns auf der Basis einer regelbasierten Weltordnung zusammenzuarbeiten.

Auf Augenhöhe kooperieren

Das wird allerdings nicht gelingen, wenn wir ihnen unsere Werte aufoktroyieren wollen. Erforderlich ist vielmehr eine Kooperationen auf Augenhöhe.

Ausgehend von neuen Energiepartnerschaften sind durchaus weitergehende Formen der Zusammenarbeit denkbar. So könnten der Aufbau dieser neuen Lieferketten und der Ausbau der Energieversorgung in Kooperation mit europäischen Firmen erfolgen. Außerdem sollten, auf der Energiepartnerschaft aufbauend, Handelsbeziehungen zum beidseitigen Vorteil intensiviert werden.

Im globalen Wettbewerb wird es, nicht zuletzt wegen der Propaganda von Autokratien, zwar nicht selbstverständlich sein, dass unser Gesellschaftsmodell höchste Anziehungskraft entfaltet. Ein Blick in die Geschichte legt aber nahe, dass Gesellschaften, in denen die Menschen darauf vertrauen können, die Früchte ihrer Arbeit zu ernten, erfolgreicher sind als solche, die zentral planen und von den Menschen nur Leistungen einfordern.

Auf diese Stärken, die uns in der Welt zu einem attraktiven Partner machen, sollten wir bei allen Herausforderungen bauen. Trotz der Neuordnung der Welt nach Putins Krieg darf nicht aus dem Blick geraten, dass globale öffentliche Güter wie Gesundheit oder Klimaschutz immer größere Bedeutung bekommen. Multilateralismus ist deshalb wichtiger denn je.

Veronika Grimm

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