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Gedenkjahr folgt Gedenkjahr. Präsident Steinmeier und Polens Präsident Duda 2019 bei der Kranzniederlegung zum 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs.

© Jutrczenka/dpa

Geschichtsstreit: Putin gibt Polen Mitschuld am Zweiten Weltkrieg

Wer gedenkt wann wo und mit wem? Die Erinnerung an die Befreiung des KZ Auschwitz wird überschattet von einem polnisch-russischen Streit. Worum es dabei geht.

Gedenkjahr folgt auf Gedenkjahr. Und der Streit um Täter, Opfer und Verantwortung in der Erinnerungskultur spitzt sich weiter zu.

2019 hatte Europa am 1. September auf den Beginn des Zweiten Weltkriegs 80 Jahre zuvor geblickt - und kurz davor auf den Hitler-Stalin-Pakt zur Aufteilung Polens und der Interessengebiete im übrigen Ostmitteleuropa als Preludium zum Angriff. Im Mai 2020 jährt sich das Kriegsende zum 75. Mal. Und wieder erhebt sich die Frage: Wer wird mit wem wo gedenken? Wer wird nicht eingeladen oder boykottiert von sich aus das gemeinsame Erinnern? Bereits Ende Januar gedenken Europa und Israel der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee 1945.

Putin verbreitet eine provozierende Erzählung

Der Streit um die Interpretation der Abläufe hat über den Jahreswechsel zu politischen Konflikten zwischen Russland und Polen geführt. Sie strahlen auch auf Israel und Deutschland aus und überschatten Gedenkfeiern in Israel und in Auschwitz zur Befreiung des KZ‘s samt Boykottdrohungen der Staatsoberhäupter.

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte Polen in mehreren Auftritten im Dezember eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gegeben und zugleich eine sowjetische Verantwortung abgestritten. In seiner Jahrespressekonferenz am 19. Dezember verteidigte er den Hitler-Stalin-Pakt 1939 und behauptete, die Sowjetunion sei „der letzte Staat Europas“ gewesen, der mit Nazi-Deutschland einen „Nichtangriffspakt“ unterzeichnet habe. Andere hätten das früher getan, spielte er auf den deutsch-polnischen Vertrag von 1934 an.

Deutschland und die USA korrigieren den Kremlchef

Im September 1939 sei die Rote Armee erst in Polen einmarschiert, nachdem die Regierung in Warschau die Kontrolle verloren habe; dies sei nur geschehen, um die Sicherheit der UdSSR zu verteidigen. Tatsächlich war die Sowjetarmee zwei Wochen nach der Wehrmacht in Polen eingefallen. Stalins Terrorapparat tötete in ähnlicher Weise wie die SS wichtige Gruppen der polnischen Elite.

Polen reagierte empört auf Putins provokante Geschichtsverfälschung. Deutschland und die USA verteidigten Polen gegen die Vorwürfe. "Der Ribbentrop-Molotow-Pakt diente der Vorbereitung des verbrecherischen Angriffskriegs Hitler-Deutschlands gegen Polen," betonte der deutsche Botschafter Rolf Nikel. Die US-Botschafterin in Polen, Georgette Mosbacher, sagte: "Lieber Präsident Putin, Hitler und Stalin verabredeten sich, ‎den Zweiten Weltkrieg zu beginnen. Das ist eine Tatsache. Polen war Opfer dieses entsetzlichen Konflikts."

Propaganda wie in der Stalin-Zeit

Wenige Tage später legte Putin nach. Bei einem Auftritt im russischen Verteidigungsministerium am 24. Dezember nannte er Jozef Lipski, Polens Botschafter in Berlin von 1933 bis 1939, einen "Drecksack, ein antisemitisches Schwein". Lipski habe sich "komplett mit Hitler solidarisiert in seinen antijüdischen, antisemitischen Tendenzen“.

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Daraufhin bestellte Polens Regierung den russischen Botschafter ein. Man habe „Sorge über Propagandabotschaften wie aus der Stalin-Zeit“ und sei „bereit, Russlands Diplomaten die historische Wahrheit so viele Male, wie es nötig ist, zu erläutern."

Warschau plant neues Gesetz gegen Geschichtslügen

An diesem Mittwoch möchte Polens Parlament mit parteiübergreifender Mehrheit ein Gesetz verabschieden, dass Lügen über die Ursachen des Zweiten Weltkriegs unter Strafe stellt. "Der Kampf gegen die Lügen zum Thema Polen und Geschichte muss fest und stark sein, um wirksam zu sein", begründet das Małgorzata Kidawa-Błońska, Präsidentschaftskandidatin der größten Oppositionspartei Bürgerplattform (PO).

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Ein früherer Versuch der nationalpopulistischen PiS-Regierung, fragwürdige Geschichtsinterpretationen zu bestrafen, war auf internationale Ablehnung gestoßen. 2016 hatte der Sejm ein Gesetz beschlossen, das es verbietet, von „polnischen Konzentrationslagern“ (statt deutschen Konzentrationslagern auf polnischem Boden) zu sprechen oder Polen eine Kollaboration bei der Judenvernichtung vorzuwerfen.

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Putin und Polens Präsident Duda boykottieren wechselseitig Gedenken

Die russisch-polnische Kontroverse beeinträchtigt nun auch das Gedenken an die Befreiung des KZ Auschwitz. Polens Präsident Andrzej Duda sagte am Mittwoch seine Teilnahme am Welt-Holocaust-Forum am 23. Januar in Jerusalem ab. Zuvor hatte er ein Rederecht dort verlangt, das die Organisatoren ihm aber nicht zugestanden. Unter anderem sollen Putin und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeiner dort reden. Duda hatte seine Forderung so begründet: Er wolle als „Repräsentant des Landes mit der größten Zahl an in Auschwitz ermordeten Bürgern“ bei der Zeremonie sprechen. Sonst werde er die Veranstaltung boykottieren.

Umgekehrt kommt Putin nicht zur Gedenkfeier in Polen aus Anlasse des 75. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar. 21 Staats- und Regierungschefs haben ihre Teilnahme zugesagt, darunter Steinmeier und Israels Präsident Reuben Rivlin. Zum 70. Jahrestag 2015 war Putin ebenfalls nicht gekommen und hatte auch damals zuvor Polen eine Mitschuld am Weltkrieg gegeben.

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