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Wie schirmt man sich gegen eine Krise ab?

© imago images/Science Photo Library

Global Challenges: Regierungen brauchen einen Chief Risk Officer

Corona wird nicht die letzte große Krise sein. Um künftig besser gerüstet zu sein, braucht es ein fundamentales Umdenken - und neue Strukturen. Ein Gastbeitrag.

Ein Gastbeitrag von Werner Hoyer

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Gastbeitrag von Werner Hoyer, Präsident der Europäischen Investitionsbank in Luxemburg. Regelmäßige Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Günther H. Oettinger, Jürgen Trittin, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.

Die Covid-19-Pandemie ist noch nicht überstanden, aber wir sehen allmählich Licht am Ende des Tunnels. Dank in Rekordzeit entwickelter Vakzine, beschleunigter Impfkampagnen, Mobilitätseinschränkungen und der Vernunft weiter Teile der Bevölkerung können wir Europäer anfangen, über die Arbeits- und Lebenswelt in der künftigen „neuen Normalität“ nachzudenken – auch wenn Länder wie Indien und Brasilien, in denen Corona-Mutanten schlimmer denn je wüten, nach wie vor unsere Hilfe benötigen.

Während wir uns dieser „neuen Normalität“ nähern, dürfen wir nicht vergessen, auch grundsätzliche Lehren aus der Corona-Krise zu ziehen. Dazu gehört die Frage, wie wir besser mit den Risiken der globalisierten Welt umgehen.  

[Lessen Sie hier bei T-Plus: Das Leben nach Corona und die Frage: Sind wir noch gesellschaftsfähig?]

Covid-19 hat uns vor Augen geführt, dass Risiken wie die Klimakrise, die unkontrollierte Anwendung Künstlicher Intelligenz oder Pandemien nicht nur für Planspiele relevant sind oder in einer fernen Zukunft liegen. Wir müssen so schnell wie möglich Antworten auf diese Herausforderungen finden und unsere Wahrnehmung für Risiken schärfen. Dabei kann die Politik nicht nur von der Wirtschaft lernen, sie muss es sogar: Wir brauchen ein professionelleres Risikomanagement in den Regierungen, um unsere Gesellschaften bereits heute auf die Krisen von morgen vorbereiten zu können.    

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Selbst die Corona-Pandemie kam ja nur vom Zeitpunkt her überraschend. Seit Jahrzehnten gab es warnende Stimmen, konkrete Szenarien und, in kleinerem Ausmaß, auch Epidemien. In Planspielen haben Wissenschaftler die Pandemie erschreckend genau vorausgesagt – nur konnten sie eben den Zeitpunkt nicht prognostizieren, womit das Thema für die Politik abstrakt blieb.

Mediziner warnen beispielsweise seit Jahren vor einer bedrohlichen Zunahme von Antibiotika-Resistenzen – die nächste weltweite Gesundheitskrise bahnt sich an. Uns droht eine Situation, in der selbst Standard-Operationen unterbleiben müssen, weil Antibiotika nicht mehr wirken und eine einfache bakterielle Infektion den Patienten töten würde. Multiresistente Keime könnten in naher Zukunft Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen als Haupttodesursache ablösen.

Schräubchen nachziehen wird nicht reichen

Das Problem: Die Entwicklung neuer Reserve-Antibiotika ist kommerziell wenig attraktiv, weil gerade bei diesen Medikamenten angestrebt wird, sie so selten wie möglich anzuwenden, um das Risiko von Resistenzen zu senken. Dennoch brauchen wir hier dringend mehr Investitionen  – doch das Risiko scheint wieder einmal zu abstrakt, um dem Thema gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Um solche und ähnliche Menschheitsrisiken rechtzeitig entschlossen zu bekämpfen, brauchen wir ein besseres Risikomanagement der Politik und eine professionellere Kooperation von Regierungen und Wirtschaft. Denn klar ist: Angesichts der neuen Bedrohungen wird es nicht reichen, hier ein Schräubchen nachzuziehen oder dort ein Brett unterzuschieben. Wir müssen schneller und radikaler denken – wir müssen Risiko und Unsicherheit antizipieren.

Was heißt das konkret? Wir sollten bei der Entwicklung neuer Technologien kleine, beherrschbare Risiken eingehen, um uns gegen die großen, schwer beherrschbaren Risiken rechtzeitig zu wappnen. Wir müssen heute ausreichend in Forschung und Entwicklung investieren, um morgen die Instrumente zu haben, mit denen wir etwa eine Ausbreitung multiresistenter Bakterien schnell eindämmen können. Oder um neue, noch bessere Methoden CO2-neutraler Energieerzeugung und -speicherung zu finden.

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Das erfordert interdisziplinäres, wissenschaftlich fundiertes und langfristig orientiertes Handeln. Im politischen Alltag einer Legislaturperiode ist das schwer durchzuhalten. Deshalb sollte, um in einer sich rasant verändernden Welt Risiko-Management dennoch  im Zentrum des Regierungshandelns zu etablieren, ein staatlicher Chief Risk Officer eingesetzt werden. Er oder sie würde mit wissenschaftlicher Hilfe gesamtgesellschaftliche Risiken abschätzen und mit einem interdisziplinären Stab mögliche Naturkatastrophen, drohende Umweltschäden, Gesundheitskrisen sowie die Wettbewerbsfolgen technischen Fortschritts systematisch erfassen – und mit Hilfe hinzugezogener Experten Lösungsansätze erarbeiten.

Ein solcher Stab unter einem Chief Risk Officer wäre immer neuen, hektisch eingesetzten  Ad-hoc-Expertenkommissionen deutlich überlegen. Außerdem könnte ein Chief Risk Officer verhindern, dass Regierungen langfristige Konsequenzen von Handeln oder Nichthandeln einfach ausblenden.

Lieber früh scheitern - als spät!

Die Empfehlungen des Chief Risk Officers sollten in eine Investitionsstrategie einfließen, die Regierungen dann unter Einbeziehung privater Investoren umsetzen. Die Europäische Investitionsbank (EIB) könnte hier als Scharnier dienen, geeignete Investitionsziele identifizieren und privates Kapital mobilisieren – so wie sie es bei der Entwicklung von Impfstoffen, Therapien und medizinischen Hilfsmitteln zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie schon erfolgreich getan hat.

Das Motto bei der Finanzierung möglicher neuer Technologien wie etwa mRNA-Impfstoffen sollte lauten: „fail early and often“. Es geht darum, in eine Vielfalt aussichtsreicher Ansätze zu investieren, mutig zu experimentieren und aus Fehlern zu lernen, bevor sie uns teuer zu stehen kommen. Dafür benötigen wir in der Europäischen Union auch eine neue Wagniskapital-Kultur. Anders als auf dem „alten Kontinent“ investieren in den USA selbst konservative institutionelle Investoren massiv in Start-ups und junge Technologiefirmen. Die Folge: Obwohl die Volkswirtschaften ähnlich groß sind, gibt es in der EU nur etwa ein Fünftel des Wagniskapitals, das in den USA  zur Verfügung steht.  

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Unsere Politik muss also die richtigen Anreize und Rahmenbedingungen für einen stärkeren Einsatz von Wagniskapital setzen und so den Wettbewerb um die besten Lösungen anheizen. Gleichzeitig sollte die Politik der Neigung widerstehen, sich bei neuen Technologieansätzen zu früh für einen Gewinner zu entscheiden und dann vor allem ihn mit Subventionen zu unterstützen.

Ungewissheit gehört nun einmal zum Fortschritt, sie ist das Grundrauschen einer komplexen Welt. Unser Ziel sollte sein, uns rational zu verhalten – die Dinge zu ergründen, statt uns vor ihnen zu fürchten und in Schockstarre zu versinken. Rationales, wissenschaftlich fundiertes Regierungshandeln wird letztlich auch den Weg aus der Corona-Pandemie weisen, auch wenn der Kurs nicht immer geradlinig verlief. Ohne frühe Investitionen in eine neue Impfstoff-Technologie hätte aber auch die klügste Politik nichts genützt. Dass wir heute über eine „neue Normalität“ sprechen können, verdanken wir Unternehmen wie Biontech – einem Musterbeispiel für das Zusammenwirken von Forscher- und Unternehmergeist, privatem Wagniskapital und öffentlicher Unterstützung, auch durch die EIB. Wenn wir gemeinsam die Strukturen schaffen, damit Menschen wie das Forscherpaar Ugur Sahin und Özlem Türeci ihr volles Potenzial entfalten können, haben wir beste Voraussetzungen, selbst große Menschheitsrisiken in den Griff zu bekommen.

Werner Hoyer

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