zum Hauptinhalt
 Regierungschefin Theresa May und Oppositionsführer Jeremy Corbyn in der Parlamentsdebatte über den Brexit

© AFP

May und Corbyn in der Brexit-Endphase: Hinterbänkler verweigern die Gefolgschaft

Die britische Regierungschefin und den Oppositionsführer haben das gleiche Problem. Sie genießen wenig Achtung in ihren Parteien.

Die Fragestunde an die Premierministerin stellt für die politische Klasse Großbritanniens einen Muss-Termin dar. In der vergangenen Woche hatte der Schlagabtausch zwischen Regierungschefin Theresa May und Oppositionsführer Jeremy Corbyn noch ein wenig mehr Gewicht als sonst, schließlich lagen zehn politisch bewegte Tage hinter der Insel.

Erst machte die Regierung den tagelangen intensiven Debatten über den EU-Austrittsvertrag ein Ende, indem sie die geplante Abstimmung kurzerhand in den Januar verschob. Dann scheiterten die konservativen Rebellen nur knapp mit ihrem Anliegen, Mays zweieinhalbjähriger Amtszeit eine Ende zu machen. Unter dem Druck der eigenen Partei mußte die 62-Jährige sich öffentlich zur lahmen Ente erklären: Zur nächsten Wahl, die spätestens 2022 ins Haus steht, werde sie nicht wieder antreten, erklärte sie. In Wirklichkeit gilt als unwahrscheinlich, dass sie Weihnachten 2019 noch in der Downing Street erlebt.

Mit leeren Händen

Aus Brüssel kehrte die Premierministerin mit leeren Händen heim, ihr Kabinett bewilligte zwei Milliarden Pfund für Notfallmaßnahmen gegen den Chaos-Brexit, der dem Land Ende März ohne Austrittsvertrag ins Haus steht. Für den paraphierten Vertrag scheinen nur noch May und ihr engstes Team zu kämpfen, alle anderen planen für die Zukunft.

Eigentlich reichhaltige Ernte also für die Opposition. Aber je näher der Brexit-Termin rückt, desto deutlicher wird die Uneinigkeit in den Reihen der Labour-Party. Die Verhältnisse in den beiden großen Parteien sind spiegelbildlich: Auf der einen Seite steht die Premierministerin, die jeden Sonntag in die Kirche geht und zäh an ihren Überzeugungen festhält; die gegen den Brexit stimmte, die aber eine überwiegend Brexit-begeisterte, überalterte, auf 125000 Mitglieder geschrumpfte Partei führt. Deren Hinterbänkler betrachten sie mit einer Mischung aus Zähneknirschen und Verachtung, haben aber nach dem misslungenen Putsch kein Mittel mehr gegen sie in der Hand haben.

Der frühere Tory-Abgeordnete und brillante Times-Kolumnist Matthew Parris schrieb im Wahlkampf 2017 eine Hintergrund-Reportage über May für die BBC. Darin hieß es, selbst enge Uni-Freunde würden die heutige Premierministerin als Mysterium beschreiben: „Niemand glaubte, sie sei dumm, niemand fand sie brillant. Alle bewunderten ihr Stehvermögen und ihre Zielstrebigkeit. Niemand fand sie sonderlich kommunikativ oder überzeugend“. Parris seine Ergebnisse so zusammengefasst: Er selbst sei früher ein Fan gewesen und heute „bestürzt“. Viel wichtiger: „Hunderte ihrer Fraktionskollegen denken genauso.“

Schlagabtausch vor den Ferien

Auf der anderen Seite steht Oppositionsführer Corbyn seiner Kontrahentin in Glaubensfragen nicht nach. In seinem Fall ist dies der Glaube an den Sozialismus der 1970er Jahre. Der 69-Jährige findet den Brexit – insgeheim – gut, jedenfalls entspricht er seinen früheren Überzeugungen und seinem jahrzehntelangen Abstimmungsverhalten. Aber er führt eine überwiegend pro-europäische Partei mit vielen Europa-begeisterten jungen Leuten, mit 540000 Mitgliedern die größte politische Gruppierung Westeuropas. Seine Hinterbänkler halten Corbyn, den lebenslangen Aktivisten ohne Uni-Abschluss und Berufsausbildung, für komplett unfähig, haben aber keine Alternative zu bieten.

Der langjährige Hinterbänkler, der erst im Pensionistenalter von 66 Jahren zum Parteiführer gewählt wurde, hat Politik immer als eine Abfolge von Protestmärschen und flammenden Reden vor gleichgesinnten Demonstranten verstanden. Das Duell im Parlament ist ihm ein Gräuel, was man ihm immer wieder anmerkt.

Am vergangenen Mittwoch aber, dem letzten Schlagabtausch vor den Weihnachtsferien, hatten ihm die Mitarbeiter sechs emotionsgeladene Brexit-Fragen aufgeschrieben, die Corbyn auch mit wachsendem Zorn vortrug: Warum die Regierung nicht endlich über den Brexit-Vertrag abstimmen lasse? Warum die Premierministerin dem „No deal“-Szenario nicht endlich eine Absage erteile? Warum sie nicht endlich das Feld räume?

Scheu vor der Verantwortung

Logischerweise hätte die Philippika in den Misstrauensantrag gegen die Regierung münden müssen, der im Erfolgsfall Neuwahlen zur Folge hätte. Davor aber scheut Corbyn seit Wochen zurück, weil er eine Abstimmungsniederlage fürchtet – und dann, einem Parteitagsbeschluss vom vergangenen Herbst zufolge, die Forderung nach einem zweiten Referendum zur offiziellen Labour-Politik würde. Die will Corbyn vermeiden, wie er ohnehin jede Verantwortung für den Brexit, das wichtigste Problem des Landes seit mehreren Jahrzehnten, am liebsten ganz bei den Torys belassen will.

Darauf wies May in ihren Erwiderungen mit brutaler Schärfe hin, bediente sich dazu aber auch alberner Theatertricks. Corbyn murmelte etwas in seinen eisgrauen Bart, was ihm die Konservativen als „stupid woman“ (blöde Frau) von den Lippen lasen und als Sexismus interpretierten. In Wahrheit habe er von „stupid people“ (blöde Leute) gesprochen, behauptete Corbyn. Einerlei: Was Corbyn in seinen Bart murmelte, interessierte niemanden, als er noch Hinterbänkler war. Der Oppositionsführer und Schatten-Premierminister wird mit anderem Maß gemessen.

Zum Jahreswechsel, schreibt das Wirtschaftsmagazin „Economist“, stünden die Briten vor der Wahl „zwischen dem Brexit und Chaos unter den Konservativen oder dem Sozialismus und Chaos unter Labour“. Möglicherweise bringt das Jahr 2019 beides.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false