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Arbeitsministerin Andrea Nahles im Tagesspiegel-Interview.

© Mike Wolff

Interview mit Andrea Nahles: „Ich möchte, dass der Renteneintritt individueller wird“

Arbeitsministerin Andrea Nahles rechnet damit, dass es durch den Mindestlohn zu Preiserhöhungen kommen wird. Im Tagesspiegel-Interview spricht sie außerdem über ihre Pläne einer Flexirente, was passiert, wenn ein Unternehmen die 8,50 Euro nicht bezahlt – und die neue Harmonie mit der Union.

Frau Nahles, Sie haben im ersten halben Jahr als Ministerin zwei Riesenprojekte gestemmt: das Rentenpaket und den Mindestlohn. Sind Sie urlaubsreif?
Ein klares Ja. Allerdings habe ich vor meinem Urlaub im August noch ein bisschen was vor. Ich mache eine Sommerreise durch die ostdeutschen Länder. Und ich werde auch in meinem Wahlkreis unterwegs sein, das ist in den letzten Monaten wegen des vollen Programms hier in Berlin zu kurz gekommen. Aber das läuft jetzt alles in einem normaleren Tempo.

In der Union jammern manche bereits, dass sie neben der SPD sozialpolitisch kaum noch wahrgenommen würden. Belastet das die Stimmung in der Koalition?
Nein, wir haben ein gutes Klima und sind, wie wir bewiesen haben, als Koalition auch sehr leistungsfähig. Wenn die Chemie nicht stimmen würde, würden wir keine Gesetze durchbekommen. Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu vielen Ministern und auch zum Fraktionschef der Union. Volker Kauder ist sehr erfahren, das hilft ungemein. Und beim Mindestlohn für die Erntehelfer habe ich auch die Zusammenarbeit mit dem Agrarminister zu schätzen gewusst. Es war gute Fügung, dass Christian Schmidt gelernter Arbeitsrechtler ist (lacht).

Sie spüren keinen Unwillen darüber, dass die Sozialdemokraten momentan überall ihre Pflöcke einschlagen?
Ich finde, wir sollten jetzt nicht mit der Aufrechnerei anfangen. Die Legislatur hat gerade erst begonnen. Die Menschen erwarten, dass wir Wort halten. Sie messen uns daran, was wir gemeinsam als Koalition für sie bewegen. Die nächsten Wahlen kommen früh genug.

Rentenreform und Mindestlohn stoßen bei den Bürgern auf breite Zustimmung. Trotzdem kommen Sie bei den Umfragen nicht aus dem Keller. Woran liegt das?
Erfolg haben wir in einer Koalition gemeinsam. Für die SPD sehe ich das als Prozess. Es dauert eben ein bisschen. Aber ich denke, die Menschen merken sehr genau, wer für sie soziale Politik macht. Langfristig wird uns das nutzen. Gerade der Mindestlohn wird uns viel verlorenes Vertrauen zurückbringen. Es gibt ihn nur, weil die SPD in der Regierung ist.

Der CSU-Politiker und Chef des Wirtschaftsausschusses, Peter Ramsauer, sagt, der Mindestlohn schade dem Land.
Eine falsche Einschätzung. Ich bin vom Gegenteil überzeugt. Der Mindestlohn nutzt dem Einzelnen und Deutschland insgesamt. Die Menschen spüren wieder, dass sich ihr Einsatz lohnt. Wir helfen den Tüchtigen, die trotz schlechter Löhne arbeiten und bisher trotz Vollzeitjob nicht über die Runden kamen. Das stärkt zugleich auch den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Da gibt es ein feines Gespür für Gerechtigkeit. 88 Prozent der Bürger halten den Mindestlohn für richtig und notwendig. Die denken dabei auch an ihren Friseur, den Taxifahrer oder die Frau im Callcenter.

Und die Sorge, dass durch den Mindestlohn Arbeitsplätze verloren gehen, ist unbegründet?
Dafür gibt es keine Belege. Für vier Millionen Beschäftigte gibt es in Deutschland schon Branchen-Mindestlöhne. Die wurden durch Schwarz-Gelb eng evaluiert. Ergebnis: Es hat keine Arbeitsplätze gekostet, es gibt keine Effekte auf dem Arbeitsmarkt. Ich bin mir sicher, dass sich die Bauchschmerzen der Skeptiker als unbegründet herausstellen.

Aber dann sind da noch die Verbraucher. Müssen die nicht befürchten, dass jetzt alles teurer wird? Haareschneiden, der Restaurantbesuch, der Spargel und die Erdbeeren auf dem Markt?
Zunächst wird die Gewinnmarge manches Unternehmens, das bisher Löhne unter 8,50 Euro zahlte, ein wenig sinken. Und ja, im Einzelfall gibt es sicher auch ein Plus beim Preis. Andererseits: Die Mindestlohnempfänger sind ja auch Konsumenten. Dank ihres höheren Einkommens können sie auch mehr Dienstleistungen und Produkte kaufen. Alles in allem wird der volkswirtschaftliche Effekt positiv sein. Und eher positiv ist der Mindestlohn auch für die sozialen Sicherungssysteme, deren Einnahmen steigen, was sie stabiler macht.

Als nächstes kommt die Flexirente

Was passiert denn, wenn ein Unternehmen die 8,50 Euro nicht bezahlt?
Um das zu verhindern, stellen wir in den nächsten beiden Jahren 1600 zusätzliche Zollbeamte ein. Die werden kontrollieren, ob der Mindestlohn auch wirklich überall gezahlt wird. Wir wollen beim Zoll außerdem eine Hotline einrichten, bei der Verstöße gemeldet werden können. Da können Arbeitnehmer anrufen, aber auch Arbeitgeber, wenn sie mitbekommen, dass der Konkurrent Lohndumping betreibt.

Befürchten Sie nicht, dass sich noch Schlupflöcher auftun, mit denen Sie gar nicht gerechnet haben?
Wir haben uns das in anderen Ländern angeschaut und Lehren für unser Gesetz daraus gezogen. Aber wir werden natürlich auch den Umgang mit dem Mindestlohn in Deutschland genau im Auge behalten und die Entwicklungen an verschiedenen Stellen evaluieren.

Gefordert wurden die 8,50 Euro Mindestlohn schon vor vielen Jahren. Reicht dieser Betrag überhaupt noch, ist er nicht jetzt schon von der Inflation überholt?
Ich halte es für richtig, mit einem moderaten Mindestlohn von 8,50 Euro einzusteigen. In Deutschland gibt es noch erhebliche Lohnunterschiede zwischen Ost und West und auch zwischen den Regionen. Da sollten wir sehen, wie sich die Einführung des Mindestlohns auswirkt. Wie sich der Mindestlohn weiter entwickelt, legt nicht die Politik fest, sondern das verhandeln und entscheiden die Sozialpartner in der Mindestlohn-Kommission. Nach heutigem Stand wird es aber 2017 eine Erhöhung geben.

Was kommt als Nächstes – die Flexirente?
Ja, unter anderem. Ich möchte, dass der Renteneintritt individueller wird. Wir können und sollten etwas tun für eine bessere Nutzung der Teilrente. Wir sollten aber auch etwas tun, um das Arbeiten über die Altersgrenze hinaus attraktiver zu machen.

Das Rentenpaket war in der Koalition umstritten, droht bei der Flexirente der nächste Krach?
Nein, wir haben gerade begonnen zu sprechen und werden später auch die Gewerkschaften und die Arbeitgeber dazuholen. Klar ist bei allen Wünschen: Wir haben finanzielle Grenzen. Aber wir sind zuversichtlich, dass wir da etwas Gutes hinbekommen.

Die Arbeitgeber und der Wirtschaftsflügel der Union fordern, dass Arbeitgeber keine Rentenbeiträge mehr zahlen müssen, wenn sie Rentner beschäftigen. Was halten Sie davon?
Das wäre zumindest sehr teuer. Das kostet die Rentenversicherung eine Milliarde Euro und die Arbeitslosenversicherung 80 Millionen Euro pro Jahr. Das muss man erst mal gegenfinanzieren.

Versprochen ist auch eine Lebensleistungsrente zur Bekämpfung von Altersarmut. Haben Sie dafür in dieser Wahlperiode überhaupt noch Geld und Energie übrig?
An Energie mangelt es mir nicht. Und Geld ist dafür eingeplant. Im Koalitionsvertrag haben wir verabredet, dass wir dieses Vorhaben 2017 auf den Weg bringen.

Zu Beginn Ihrer Amtszeit haben Sie gesagt, mit dem Anwesenheitswahn in deutschen Betrieben müsse Schluss sein. Wie wollen Sie für familienfreundlichere Arbeitszeiten sorgen?
Darum wird sich natürlich besonders Manuela Schwesig, meine Kollegin aus dem Familienministerium, kümmern. Aber in jedem Ressort gibt es Möglichkeiten, das anzugehen. Meine Aufgabe ist es, Frauen vor der Teilzeitfalle zu schützen. In Deutschland haben viele Frauen vom Rechtsanspruch auf Teilzeit Gebrauch gemacht. Wenn sie nach einigen Jahren ihre Karriere fortsetzen wollen, stellen sie fest, dass sie vor eine Wand laufen. Das müssen wir aufbrechen.

Ihre Nachfolgerin als SPD-Generalsekretärin, Yasmin Fahimi, fordert ein „Recht auf Feierabend“. Was kann die Politik dazu beitragen, dass Arbeitnehmer nicht permanent erreichbar sein müssen?
Die zunehmende Digitalisierung führt dazu, dass Arbeitnehmer sich überfordert fühlen. Viele können abends oder am Wochenende nicht mehr abschalten, weil durch mobile Geräte die Trennung zwischen Arbeit und Privatleben schwerfällt. Ich habe eine umfassende Studie in Auftrag gegeben, bei der untersucht werden soll, was heute in der Arbeitswelt Stress auslöst und welche Wechselwirkungen es gibt. 2015 wollen wir das auswerten und einen Aktionsplan vorlegen. Ich habe aber den Eindruck, dass auch die Arbeitgeber gemerkt haben, wie wichtig dieses Thema ist. Sie leiden schon jetzt unter Fachkräftemangel und müssen sich darum kümmern, dass ihre Mitarbeiter möglichst lange fit und motiviert bleiben.

Gelingt es Ihnen selbst denn überhaupt, am Wochenende abzuschalten?
Das geht ganz einfach. Wenn ich nach Hause komme, gibt meine Tochter die Themen und den Takt vor. Und wenn ich, wie zuletzt am Wochenende vor der Mindestlohnabstimmung, doch ab und zu auf mein Handy schaue, bekomme ich zu hören: Mama, jetzt pass doch endlich mal auf!

Die Fragen stellten Cordula Eubel und Rainer Woratschka. Foto: Mike Wolff.

Zur Person

MANAGERIN

Politisch losgelegt hat Andrea Nahles mit 25 Jahren als Juso-Chefin. Von 2009 bis 2013 war sie Generalsekretärin der SPD. Sie wollte das schon vier Jahre früher werden, der Streit darüber führte zum Rückzieher von Franz Müntefering als Parteichef.

MINISTERIN

Seit 2013 ist Nahles Arbeits- und Sozialministerin. Ihr erstes Projekt war eine milliardenschwere Rentenreform.

MUTTER

Nahles wuchs in der Eifel auf. In der Abi-Zeitung gab sie als Berufswunsch an, Hausfrau oder Kanzlerin werden zu wollen. Sie studierte Germanistik und hat eine dreijährige Tochter.

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