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"Gemeinsam. Ohne Angst". Ein Plakat der Kampagne #ichbleibezuhause wirbt für Vorsicht in der Coronakrise

© Carlo Hermann/AFP

Update

Italien steht still: So reagiert die Regierung in Rom auf neue Corona-Schreckenszahlen

Ein Rekord der Todeszahlen folgt dem nächsten. Deshalb versetzt nun Italien das öffentliche Leben in ein künstliches Koma. Nur das Nötigste darf noch produziert werden.

Italien wird von diesem Montag an nahezu stillstehen. Wenige Stunden nach der Veröffentlichung neuer schockierender Ansteckungs- und Totenzahlen verfügte die Regierung in Rom in der Nacht zum Sonntag, dass die Arbeit in allen Fabriken, Büros, Firmen ab Montag ruhen muss.  

Ausgenommen sind nach den Worten von Ministerpräsident Conte nur Lebensmittelproduktion und Medikamente. Apotheken, Lebensmittelhändler, Supermärkte, Post und Banken sollen offen bleiben. Auf der Liste, die am Sonntag bekannt wurde, stehen Landwirtschaft und Fischfang, auch die  Lebensmittel- und Getränkeindustrie darf weiter arbeiten. 

Stoff darf weiter produziert werden, allerdings nicht für Bekleidung, auch Plastik, Gummi, Papier, Aluminium und Ölraffinerien gelten als unverzichtbar, ebenso die Müllabfuhr und –entsorgung, Wasserwirtschaft, Energieversorgung und Klimaanlagen, einschließlich des jeweiligen Handwerks. 

In einer Videobotschaft über Facebook informierte Ministerpräsident Giuseppe Conte kurz vor Mitternacht seine Landsleute, dass die Regierung „einen weiteren Schritt gehen“ werde. Es werde „jegliche Produktion  beendet, die nicht absolut notwendig und unerlässlich ist, um grundlegende Dienstleistungen und das Funktionieren des Staates während des Notstands sicherzustellen“. 

"Größte Herausforderung der Nachkriegszeit"

Conte sprach von der „größten Herausforderung der Nachkriegszeit. Unsere Gesellschaft muss zusammenhaltene wie noch nie, wie eine Kette, wenn sie das wichtigste Gut schützen will, das Leben. Sollte nur ein Glied dieser Kette brechen, wären wir alle viel größeren Gefahren ausgesetzt. Der Verzicht, der uns heute wie ein Schritt zurück erscheint, wird uns später einen neuen Anlauf ermöglichen.“ Er fügte hinzu: „Gemeinsam werden wir es schaffen.“

Conte reagierte damit offenbar auf Druck vor allem aus der Lombardei, der am fürchterlichsten von Covid-19 geschlagenen Region. Deren Präsident Attilio Fontana hatte am Samstag bereits viel härtere Ausgangsverbote verfügt als Rom. Unter anderem sollten Bußgelder bis zu 5000 Euro verhängt werden, wenn menr als zwei Personen in der Öffentlichkeit angetroffen wurden – wobei offen blieb, ob dies auch für Familien gilt. Conte stellte in Aussicht, auch national noch mehr zu tun.  

Neben Fontana hatten auch Gewerkschaften und die Verbände der kleinen Unternehmen, die er am Samstag traf, einen klaren Schnitt vom Ministerpräsidenten gefordert. In den Fabriken im Norden, der Produktionszentrum des ganzen Landes, hatten Arbeiter in den vergangenen Tagen gestreikt, weil sie sich nicht genug gegen das Virus geschützt sahen, zum Beispiel bei Electrolux in Treviso. 

Die Vorsitzende der größten Metallarbeitergewerkschaft Fiom,  Francesca Re David wurde in Repubblica mit den Worten zitiert: „Folgt dem, was die Wissenschaft sagt und schließt alles, was nicht zwingend nötig ist.“ Andere Gewerkschaftsvertreter berichteten, erstmals forderten Beschäftigte selbst die Schließung ihrer Fabriken. Es gab aber auch Bedenken: Nora Garofalo, Vorsitzende der Chemie- und Textilsparte der Gewerkschaft Cisl: „Schon eine Raffinerie oder einen Fensterbauer zu schließen, führt zu mehr Ansammlungen von Arbeitern, als wenn man die Maschinen sehr reduziert weiterlaufen ließe.“

 Was macht die Lombardei zur Covid-Hölle?

Conte hatte noch härtere Maßnahmen bisher gescheut, weil er um den sozialen Zusammenhalt während einer absehbar langen Krise fürchtete.  Am späten Samstagabend gab er nach – wohl auch unter dem Eindruck der Zahlen: In Italien sind waren demnach am 42.681 Menschen infiziert, in den 24 Stunden zwischen Freitag und Samstag 18 Uhr wurden fast 800 Tote durch Covid-19 registriert. Die Zahlen zeigten am Sonntagabend dann etwas nach unten: 651 Tote mehr, auch die Zahl der Neuinfektionen blieb unter der des Vortags. Dies war jedoch im Laufe der Woche schon einmal der Fall.

Auch die Zahlen, die die Gewerkschaften zur Sitzung mit der Regierung dabei hatten, konnten erschrecken: Die größte, Cgil, hatte für den Großraum Mailand errechnet, dass von 1,5 Millionen Erwerbstätigen etwa 600.000 als „systemrelevant“ angesehen werden könnten. 

Von den übrigen waren aber trotz weitgehenden Shutdowns – der ja die Wege zur Arbeit bisher nicht betraf – und ohne die etwa 150.000 Homeoffice-Tätigen immer noch 300.000 täglich unterwegs und konnten das Virus verbreiten oder sich anstecken, in ihren Büros und Fabriken ebenso wie auf dem Weg dahin und von dort. „In der gesamten Lombardei und im Norden, dem Herzen der italienischen Produktivwirtschaft, gab es viele, die nicht geschlossen haben“, schreibt Repubblica. „Zu viele.“ Der Corrriere della sera weist auf die schiere Größe des „Seuchenherds Lombardei“ und dessen lebhaften Pendelverkehr hin.

Schreckliche Totenzahlen in der Lombardei

Das könnte einer der Gründe für die schrecklichen Totenzahlen der Lombardei sein, die schließlich  über das dichteste Netz gut ausgestatteter moderner Klinik in Italien verfügt. Während in China im Mittel zwei Prozent der Erkrankten starben, sind es dort zehn Prozent. Über die - möglichen – Gründe veröffentlichten die Zeitungen am Wochenende lange Berichte. 

Von der „lombardischen Anomalie“ ist die Rede oder vom „Rätsel von Bergamo“. In der schrecklich getroffenen Stadt muss mehr als die Hälfte der festgestellten Infizierten wegen ihrer schweren Symptome ins Krankenhaus.  Die Gründe müssten schleunigst gefunden werden, sagte Ilaria Capua, eine der bekanntesten italienischen Virologinnen, die in Florida forscht. „Sollte sich diese Anomalie in Mailand forttsetzen, kann sie auch andere große Städte treffen, London, Berlin oder Paris.“

Unter den Verdächtigen: Womöglich veraltete Klimaanlagen, die das Virus weitertragen – in Bergamo, Cremona, Brescia und der ersten isolierten Roten Zone Italiens Codogno nahm die Seuche jeweils von Krankenhäusern aus ihren Weg. 

Auch die Umweltprobleme der hyperindustrialisierten Lombardei könnten sie befördern. Die Lombardei hat eine der höchsten Dichte von Fabriken und Agrarindustrie in Europa. Feinstaubbelastung und Smog beförderten bereits jene Vorerkrankungen, die dann Covid-19 so lebensgefährlich mache: Bluthochdruck, Atemprobleme und Diabetes, also all das, woran die meisten Opfer der Krankheit litten. Die Wissenschaftler raten allerdings zur Vorsicht. Bisher gebe es noch keine Beweise, und auch Venetien, China und Bayern teilten diese Industriestruktur mit der Lombardei.

Das Dilemma von Italiens Norden

Womöglich gab es aber auch jüngere Versäumnisse, die mit der Rolle der Industrie zu tun haben. Die Umweltjournalistin Marina Forti hat in ihrem vor zwei Jahren erschienenen und bisher unübersetzten Buch „Malaterra“ (Untertitel: Wie Italien vergiftet wurde) das Dilemma des Nordens am Beispiel Brescias beschrieben. 

In der Stadt, in der jahrzehntelang nur ein paar Kilometer vom Zentrum entfernt ein Chemie-Unternehmen produzierte, lagern so viel Dioxin, PCB und andere krebserregende Chemikalien in den Böden, dass Schilder in den öffentlichen Parks das Betreten des Rasens verbieten: „Brescia, eine der wohlhabendsten Städte der reichen Lombardei“, schreibt Forti, „ist zugleich eins der am meisten verseuchten Industriegebiete Italiens.“ Im Maschinenraum der italienischen Wirtschaft zählte Produktion traditionell immer mehr als die Umwelt. 

Noch als in Bergamo im Februar schon eine große Zahl von Infizierten bekannt war, schreibt Repubblica, habe der örtliche Unternehmerverband die europäische Kundschaft mit einem Werbevideo „Bergamo is running“ zu beruhigen versucht. Bergamos Bürgermeister Giorgio Gori hat inzwischen Versäumnisse zugegeben. Am Wochenende gehörte er mit 200 Kolleginnen und Kollegen aus dem Norden zu denen, die an Premier Conte appellierten: „Machen wir wirklich dicht.“ Mailands Bürgermeister Beppe Sala hatte vor Wochen noch den Durchhalte-Slogan #milanononsiferma kreiert und per Video verbreitet, „Mailand macht nicht dicht“.

Hilfe aus Kuba und Russland - und von Doktoren in Rente

Ein Artikel in der Sonntagsausgabe des Mailänder „Corriere della sera“ wies noch auf andere Aspekte der Ansteckung und der offiziellen Zahlen hin:  Gerade die am schlimmsten betroffenen Regionen, die Lombardei und die Emilia-Romagna, testeten seltener auf das Virus, weshalb das Verhältnis zwischen festgestellten Infizierten und Toten so extrem hoch sei. 

Hinzu komme das enge Miteinander der Generationen in Italien. Der Artikel verweist auf gleich zwei Studien aus Oxford und Bonn: Lebten in Frankreich, der Schweiz, den Niederlanden und Deutschland weniger als fünf Prozent der Erwachsenen zwischen 30 und 49 Jahren bei ihren Eltern, liege der Anteil in Japan, China, Südkorea und Italien über 20 Prozent. Die Großeltern hüteten oft die Enkel, das Virus übertrage sich über die symptomfreien Jüngeren auf die anfälligeren Alten. 

Die Hoffnungen auch von Fachleuten richten sich nun darauf, dass das amtlich verordnete künstliche Koma für Italiens öffentliches Leben die tödliche Kurve bremsen wird. Die Rekordtotenzahl von 793 von Samstagabend bilde Ansteckungen ab, die vor dem ersten Shutdown-Dekret der Regierung liegen müssten, sagt der Virologe Massimo Clementi, der das virologische Labor der Mailänder Klinik San Raffaele leitet, dem Corriere.  Sein Kollege Carlo Signorelli, Hygienespezialist am selben Haus, meint: „Wir werden in nächster Zeit den Scheitelpunkt erleben.“

Hilfe kommt

Zumal jetzt Hilfe ankommt. Der Bürgermeister von Brescia sagte der Zeitung, er hoffe jetzt auf Unterstützung aus jenen acht Teams mit russischen Miltärärzten, die Epidemiespezialisten seien. Auch Kuba schickte Fachleute, die schon nach dem Erdbeben auf Haiti im Einsatz waren - die 53 Krankenpfleger und Ärztinnen flogen nach Crema, ebenfalls eine schwer betroffene Stadt.

Nach stockendem Beginn konnte jetzt auch Italiens Zivilschutzbehörde einen Erfolg ihrer Werbekampagne vermelden: Auf ihren Aufruf an Medizinerinnen und Mediziner im ganzen Land hatten sich 7900 Kandidaten gemeldet. 300 werden nun für die Corona-Taskforce ausgewählt. Einer derer, die wegen des Notstands den Ruhestand verlassen haben, ist der Narkosearzt Giampiero Giron. 

Ein Krankenhaus in Padua hatte ihn gefragt, ob er kommen wolle. Giron wollte. "Alles andere würde gegen den hippokratischen Eid verstoßen", sagt der 85-Jährige. Angst um die eigene Gesundheit? "Wer die hat, soll diesen Beruf nicht ergreifen. Wie viele Chirurgen ziehen sich Hepatitis zu?" Giron versicherte gleichzeitig, dass er sich auch selbst beobachten werde: "Sobald ich merke, dass ich unsicher werde, höre ich auf."

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