zum Hauptinhalt
Ein Blick auf das Gefängnisgebäude in Oleniwka, das im Juli im Zuge des ukrainisch-russischen Konflikts durch Beschuss beschädigt wurde.

© REUTERS/Alexander Ermochenko

Lager-System in besetzten Gebieten aufgedeckt: „Jeder muss eine erniedrigende Prozedur über sich ergehen lassen“

Ukrainische Zivilisten und Militärangehörige werden in der Region Donezk in Lager gesperrt. Einem Bericht der US-Uni Yale zufolge gibt es Hinweise auf Gräber.

Ukrainer:innen, die in den neu von Russland besetzten Gebieten leben, müssen sich offenbar einer Art Zuverlässigkeitsprüfung unterziehen. In einem aktuellen Bericht bezeichnet das Yale School of Public Health's Humanitarian Research Lab (Yale HRL) diese Form der Untersuchung als Filtersystem.

[Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen.]

Mittels dieses Systems sollen Kiew-treue Ukrainer:innen, Angehörige der ukrainischen Streitkräfte und viele mehr identifiziert werden. Menschen, die in den besetzten Gebieten wohnen, müssen dieses „Filtersystem“ offenbar durchlaufen, um Ausweisdokumente zu erhalten.

„Ohne ein Filterpapier ist man im DPR-Universum ein Insekt. Um nach Mariupol zurückzukehren oder weiterzureisen, musste jeder eine erniedrigende Prozedur über sich ergehen lassen“, zitiert die ukrainische Nachrichtenagentur Ukrinform einen Mann, der seine Dokumente in der Stadt Nikolske nordwestlich von Mariupol erhalten haben soll.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Nach Angaben des Yale-Berichts gibt es verschiedene Stufen des Filtersystems, die an unterschiedlichen Orten im besetzten Gebiet durchgeführt würden. Insgesamt zählt der Bericht 21 verifizierte Standorte der russischen Besatzer und prorussischen Separatisten auf. Sie sollen zum Teil schon im März 2022, also kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine in Betrieb gegangen sein. Viele weitere Standorte konnten demnach nicht abschließend bestätigt werden.

Registrierung, Verhör, Inhaftierung

Zum einen gibt es den Registrierungsprozess, der allein in der Region Donezk an elf verschiedenen Standorten durchgeführt werden soll. An dessen Ende könne die Herausgabe der erforderlichen Dokumente stehen oder die Verlegung in eine andere Einrichtung, wie aus dem Bericht hervorgeht. Das Yale HRL gibt diesen Einrichtungen folgende Beschreibungen: Verwahrung, sekundäre Vernehmung und Inhaftierung.

Der Yale-Bericht führt mindestens sechs Standorte auf, an denen Menschen „verwahrt“ wurden. In der Stadt Nowoasowsk – östlich von Mariupol und nur etwa 12 Kilometer vor der russischen Grenze – sollen mehrere Schulen zur Unterbringung genutzt werden. „Alle Schulen im Bezirk wurden in provisorische Flüchtlingsunterkünfte umgewandelt. Fast 6.000 Menschen sind bereits in der Region angekommen, und es werden mindestens 60.000 weitere erwartet“, zitiert die russische Tageszeitung „Prawda“ den stellvertretenden Verwaltungschef.

Ein Video aus einem Verwahrungszentrum in einer Schule in dem Dorf Bezimenne nur wenige Kilometer westlich zeigt, wie Menschen auf dem Boden schlafen. „Die Haftbedingungen sind schrecklich“, berichtet Ukrinform. Ein Mann sei in dem Video zu hören, wie er sagt, dass es in dem Gebäude nur ein Waschbecken mit kaltem Wasser gibt. Flüchtet einer der „Gefangenen“, „versprechen die Eindringlinge, die Folter zu verschärfen und andere Gefangene zu erschießen“.

Angehörige der ukrainischen Streitkräfte aus dem Stahlwerk Azovstal kommen in Oleniwka an (Archivbild).

© REUTERS/Alexander Ermochenko

Die Inhaftierung von „ukrainischen Zivilisten, Kriegsgefangenen und anderen Personen in den von Russland und seinen Stellvertretern besetzten Gebieten“ findet laut Bericht an mindestens fünf Orten statt. Einer von ihnen wurde am 29. Juli 2022 weltweitbekannt. Als eine Explosion das Gefangenenlager Nummer 120 nahe Oleniwka erschütterte, starben mutmaßlich 53 ukrainische Kriegsgefangene. Die Ukraine und Russland machen sich gegenseitig für den Angriff verantwortlich. Menschenrechtsorganisationen und dem Roten Kreuz wurden Besuche bislang nicht gestattet.

[Lesen Sie auch: Was in der Kolonie Oleniwka geschah: Versucht Russland, Folter an Kriegsgefangenen zu vertuschen? (T+)]

Doch die Yale-Untersuchung berichtet von mutmaßlichen Gräbern in dem Gefangenenlager schon lange vor dem tödlichen Vorfall. Bereits Ende März oder Anfang April berichtete das ukrainische Wochenmagazin „NV“ von einem Mann, dessen Zellengenosse mutmaßlich Gräber ausgehoben haben soll.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Konnte die Yale-Untersuchung diese Aussagen noch nicht verifizieren, deuten Satellitenbilder vom 11. April darauf hin, dass innerhalb des Gefangenenlagers mehrere Löcher gegraben wurden. Weitere Löcher seien Mitte Juli – nur wenige Tage vor der tödlichen Explosion – aufgetaucht, wie der Bellingcat-Gründer Eliot Higgins auf Twitter schreib. Weitere Satellitenbilder zeigen neue Löcher am 27. Juli – zwei Tage vor der Explosion. Auch Kämper aus dem Azovstal-Werk in Mariupol sollen in dem Lager inhaftiert worden sein.

Mehr zum Ukraine-Krieg auf Tagesspiegel Plus:

Abschließend könne nicht geklärt werden, ob es sich bei den Löchern tatsächlich um Gräber handelt. Beobachter gehen davon aus, dass Russland mit der Explosion eigene Kriegsverbrechen vertuschen will. Das Yale HRL hält es daher für notwendig, dass unabhängige Beobachter:innen Zugang zu den ermittelten Einrichtungen gewährt werde.

Berichte von ehemaligen Inhaftierten würden „grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlungen“ zeigen. Russland und die mit Russland verbündeten Streitkräfte werden dazu aufgefordert, „Vertretern der Vereinten Nationen und internationaler humanitärer Organisationen sofortigen Zugang zu den in diesem Bericht genannten Orten sowie zu allen weiteren Orten zu gewähren“. (tsp)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false