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Die EU hofft, dass die Türkei die Flüchtlingszahlen (hier ein Boot bei der Ankunft auf Lesbos) begrenzen kann.

© AFP

Update

Kritik an Grundsatzvereinbarung mit der EU: Türkei warnt vor "politischer Bestechung"

Die Grundsatzvereinbarung mit der EU in der Flüchtlingsfrage steht in der Türkei heftig in der Kritik. Sie werde das Flüchtlingsproblem nicht lösen, monieren Experten.

Die Zuversicht der EU, mit der Türkei eine belastbare Grundsatzvereinbarung in der Flüchtlingsfrage ausgehandelt zu haben, ist möglicherweise verfrüht. Regierungsvertreter und Experten in der Türkei äußerten sich am Freitag ablehnend zu der Abmachung. Auf Kritik stieß insbesondere die Absicht der EU, im Gegenzug für Milliardenzahlungen und politischen Versprechen die Flüchtlingsfrage in der Türkei abzuladen. Außenminister Feridun Sinirlioglu bestritt, dass es bereits eine Einigung gebe, und forderte mehr Geld von der EU für sein Land.

Ömer Celik, Sprecher der Regierungspartei AKP, warnte die EU vor dem Versuch einer „politischen Bestechung“. Die türkische EU-Bewerbung und das europäische Flüchtlingsproblem seien zwei unterschiedliche Dinge. Celik betonte zuden, es gebe noch keine Einigung. Es werde weiter verhandelt. Präsident Recep Tayyip Erdogan äußerte sich nicht direkt zu den Gesprächen mit der EU, kritisierte aber, dass sich die EU nach wie vor weigere, die Türkei aufzunehmen. Zudem machte er sich über Berichte lustig, die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wegen ihrer Flüchtlingspolitik zur Favoritin für den Friedens-Nobelpreise erklärt hatten. Die Türkei habe 2,2 Millionen Syrer aufgenommen und werde nicht einmal erwähnt, sagte er.

Die EU will Ankara im Gegenzug für schärfere Grenzkontrollen mit beschleunigten Verhandlungen über Visa-Erleichterungen und einen EU-Beitritt sowie mit milliardenschwerer Unterstützung entgegenkommen. Wie Celik kritisierte auch die türkische Opposition die Haltung der EU. Merkel, die am Sonntag in Istanbul mit Erdogan über die Flüchtlingskrise sprechen will, solle auf eine „radikale Veränderung“ der türkischen Syrien-Politik dringen, sagte der Außenpolitiker Nazmi Gür von der Kurdenpartei HDP unserer Zeitung. Zudem sei es falsch von der türkischen Regierung, die Flüchtlinge als „Trumpfkarte“ in den Beziehungen zur EU einzusetzen.

Türkischer Politologe: "Die EU macht aus der Türkei ein billiges Flüchtlingshotel"

 

Der Istanbuler Politologe Savas Genc bemängelte, die EU habe jahrelang jeden Fortschritt im türkischen Beitrittsprozess abgebügelt, stelle nun aber plötzlich die Öffnung neuer Verhandlungskapitel in Aussicht. „Das ist eine Unverschämtheit“, sagte der Politologe unserer Zeitung. „Die EU macht aus der Türkei ein billiges Flüchtlingshotel.“

Mit Aufmerksamkeit wurde in der Türkei auch registriert, dass die EU plötzlich zu Zugeständnissen in der für viele Türken sehr wichtigen Frage der Visa-Erleichterung bereit ist. Indirekt liefen die Zusagen zwei Wochen vor der Parlamentsneuwahl am 1. November auf eine Wahlkampfunterstützung für Präsident Recep Tayyip Erdogan und dessen Regierungspartei AKP hinaus, sagte Genc. Der Journalist Oguz Karamuk findet das Vorgehen der EU schlicht „widerlich“.

Experten bemängelten auch, dass die von der EU verkündete Einigung an der Realität in der Türkei vorbei gehe. So sei es schlicht unmöglich, die türkischen Grenzen Richtung EU abzuschotten, sagte der führende Migrationsforscher der Türkei, Murat Erdogan von der Ankaraner Hacettepte-Universität, unserer Zeitung. „Eine Grenzschließung ist unmöglich und unmoralisch. Das wird die ganze Welle nicht stoppen.“

Gebraucht wird dem Experten Erdogan zufolge eine gemeinsam ausgearbeitete regionale Flüchtlingspolitik sowie ein radikaler Wandel des türkischen Umgangs mit den Flüchtlingen. Das Problem sei nicht mit ein paar EU-Milliarden zu lösen. Bisher betrachtet die Türkei die Syrer im Land als geduldete „Gäste“ ohne Rechte etwa auf dem Arbeitsmarkt und ohne Bewegungsfreiheit im Land. Obwohl bereits 150.000 syrische Kinder in der Türkei auf die Welt gekommen seien, gebe es keine Integrationsprogramme, kritisierte Erdogan.

Ein Hauptgrund für die Lage ist dem Migrationsforscher zufolge, dass die türkische Regierung ihre Syrien-Politik ganz auf den angestrebten Sturz von Präsident Baschar al-Assad konzentriert, das mittelfristig zu erwartende Flüchtlingsproblem aber ausblendet: Ankara gehe nach wie vor davon aus, dass die Syrer nach einem Ende des Konflikts nach Hause zurückkehren würden. „Aber sie werden bleiben.“

Erdogan: Viele Türken haben die Sorge, ihre Jobs an Flüchtlinge zu verlieren

Völlig realitätsfern ist nach übereinstimmender Meinung türkischer Beobachter die Erwartung der Europäer, dass die Türkei schon innerhalb von kürzester Zeit den Strom der syrischen Flüchtlinge nach Europa eindämmen wird. „Bis zu den Wahlen wird überhaupt nichts passieren“, sagte Erdogan. „Und ob danach etwas geschieht, ist auch fraglich.“ Denn eine Systemumstellung, die den Syrern zum Beispiel durch Arbeitsgenehmigungen eine langfristige Pespektive in der Türkei eröffnen würde, sei bei türkischen Normalbürgern sehr unbeliebt. Angesichts der vielen Syrer hätten die Türken die Sorge, ihre Jobs an Flüchtlinge zu verlieren.

Journalist Karamuk und andere Kritiker der Vereinbarung sehen zudem voraus, dass die Türkei noch weitere Flüchtlinge anziehen wird, wenn sich herumspricht, dass ein Aufenthalt in der Türkei zumindest für einige die geordnete Weiterreise nach Europa ermöglichen kann. „Auch aus Libyen und anderswoher werden Flüchtlinge kommen“, schrieb Karamuk auf Twitter. Und dann? Dann werden nach Einschätzung des Politologen Genc auch viele Einheimische nachdenklich werden. „Wenn das so weitergeht, werden viele Türken nach Europa fliehen.“

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