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Das „Sonnenblumenhaus“ in Rostock-Lichtenhagen, wo vor 30 Jahren rassistische Ausschreitungen stattfanden.

© Foto: dpa/Bernd Wüstneck

Mehr als nur das Sonnenblumenhaus: Wie sich Rostock-Lichtenhagen neu zu erfinden versucht

Bis zu den massiven rassistischen Ausschreitungen 1992 galt Rostock-Lichtenhagen als Vorzeigesiedlung der DDR. Nach der Wende wurde der Stadtteil zum Symbol von Fremdenhass. Das ändert sich nun.

Es ist ein heißer Montag im August 2022. Die letzten Schiffe der beliebten Hanse Sail verlassen gerade den Rostocker Hafen und mit ihnen die vielen Touristen, die für dieses Spektakel jährlich in die Hansestadt pilgern. Die Sonne brennt und die Straßen sind während der Mittagshitze wie ausgestorben. Wer frei hat, genießt den Tag am Strand von Warnemünde.

Am späten Nachmittag finden sich einige Menschen am Lichtenhäger Brink zusammen. „Pass auf!“, ruft eine Mutter ihrem Kind zu. Am nördlichen Brink befinden sich sieben Wasserbecken mit Brunnen. „Kein Badewasser, Betreten verboten, Verletzungsgefahr“, steht auf den Schildern am Beckenrand. Die Kinder planschen trotzdem darin.

Seit Wochen ist hier im Viertel viel los. Es steht ein wichtiges Ereignis an. Die Medien betiteln es als „30 Jahre Rostock-Lichtenhagen“. Doch gefeiert wird nicht, dass Lichtenhagen 30 Jahre alt wird. Den Stadtteil gibt es bereits seit 50 Jahren. Anlass für das 30-jährige Jubiläum ist das Pogrom von 1992.

„Leben im Wasser“ heißen die sieben Brunnen am nördlichen Lichtenhäger Brink.

© Foto: Anni Dietzke

Bei den Ausschreitungen im August 1992 versammelt sich an mehreren Tagen ein rassistischer Mob zwischen der Mecklenburger Allee und der Güstrower Straße. Dort befindet sich zu dieser Zeit die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber. An der Ostseite des elfgeschossigen Plattenbaus strahlen an der Fassade drei riesige Sonnenblumen.

Man sieht sie schon von der S-Bahn-Station aus. Man sieht sie auch von der Schnellstraße aus, die nach Warnemünde führt. Sie sind bis heute unübersehbar und geben dem Haus seinen Namen. Das Sonnenblumenhaus wird im August 1992 ein großer Schauplatz von Rassismus und steht seither stellvertretend für einen gesamten Stadtteil, der Jahre zuvor noch Vorzeigeobjekt der DDR war.

Ich war von den Lichtenhäger:innen positiv überrascht. Vielleicht, weil auch ich leider nicht frei von Vorurteilen bin.

Nico Baumgarten, Fotograf aus Berlin

Ab den 70er Jahren entstehen in Rostock nach und nach Großwohnsiedlungen im DDR-typischen Plattenbaustil. Im Nordwesten der Stadt, an der Grenze zu Warnemünde, baut sich zwischen 1972 und 1976 das Neubaugebiet Lichtenhagen auf. Es gilt bis zur Wende als Musterbeispiel für modernen Städte- und Wohnungsbau, fernab von Altbauten mit Ofenheizung und Etagentoilette. Den Mittelpunkt der Siedlung bildet der Lichtenhäger Brink – eine etwa 500 Meter lange Fußgängerzone, die sich von der Güstrower zur Ratzeburger Straße zieht.

An dem heißen Montagnachmittag im August 2022 ist auch der Berliner Fotograf Nico Baumgarten vor Ort. In den vergangenen Monaten, seit Sommer 2021, hat er die unterschiedlichsten Menschen im Viertel getroffen und portraitiert. Diese Bilder zieren nun auf Großleinwänden als Open Air Ausstellung den Lichtenhäger Brink.

Die Open Air Ausstellung von Nico Baumgarten am Lichtenhäger Brink

© Foto: Anni Dietzke

„Ich war von den Lichtenhäger:innen positiv überrascht. Vielleicht, weil auch ich leider nicht frei von Vorurteilen bin“, sagt der 41-Jährige über sein Projekt „Hinter den Platten liegt der Strand“. Auf den Bildern sind jene Leute zu sehen, die ihm auf der Straße begegnet sind, die sein Interesse geweckt und sich haben fotografieren lassen – in all ihrer Vielfalt.

„Generell beschäftige ich mich in meiner Arbeit häufiger mit Orten und Themen, die auf einen einzigen Aspekt reduziert werden“, so Baumgarten. Die Intention hinter seinem Fotoprojekt sei es, die Vielfalt und Diversität, die es im heutigen Lichtenhagen gibt, zu betonen.

Neben den Fotoleinwänden schmücken Skulpturen und Hansa Rostock Aufkleber an Laternen und Mülleimern die Fußgängerzone. Am südlichen Zipfel des Brinks befindet sich der Bauernbrunnen. Die besten Jahre hat der im Jahr 1976 errichtete Brunnen jedoch hinter sich. Die Rostocker Gesellschaft für Stadterneuerung und Stadtentwicklung (RGS) soll bis zum Sommer 2023 den denkmalgeschützten Brunnen wieder zum Leuchten und Sprudeln bringen.

Hansa Rostock ist überall präsent.

© Foto: Anni Dietzke

Schwerpunkt der Planung sei „die sensible Sanierung dieser Fußgängerzone mit dem Charakter einer innerörtlichen Parkanlage“, sagt die RGS. In Lichtenhagen tut sich also was. Es wird saniert, restauriert und versucht, den guten Ruf von damals wiederherzustellen. Damals, bevor die Gegend nach der Wende zum Symbol von Fremdenhass wurde.

Seit September ist wieder Ruhe eingekehrt. Die Journalisten sind weg, wahrscheinlich bis zum nächsten Pogrom-Jahrestag. Die Anwohner nutzen ihren Brink wieder zum Verweilen. Ihren Brink? „Brink sagt hier kein Mensch! Bei uns heißt das schon immer Boulevard!“, sagt ein 50-jähriger Anwohner irritiert.

„Wir waren heute in Warnemünde, weil das Wetter so schön war“, erzählt ein Rentner-Ehepaar einer Nachbarin, die an einem Spätsommertag Mitte September auf einer Bank Platz genommen hat. Nach einem kurzen Plausch geht es weiter. „Komm Fiffi, wir gehen auch“, sagt die Nachbarin zu ihrem Hund. Über das Sonnenblumenhaus und die vielen fremden Besucher der letzten Wochen wird nicht geredet.

Die DDR-Kaufhalle am südlichen Brink soll demnächst abgerissen werden.

© Foto: Anni Dietzke

Etwa 200 Meter vom Bauernbrunnen entfernt, hinter einer ehemaligen Kaufhalle aus DDR-Zeiten, die definitiv die besten Jahre hinter sich hat, befindet sich das Nordlicht – das nach eigenen Angaben „wohl multifunktionalste Haus der Hansestadt Rostock“. An der Fassade klebt seit Wochen ein Plakat: „Viva La Travestie“ am 5. November. Wie passt eine Travestieshow zum Lichtenhagener Ruf? Gar nicht. Es ist eben offenbar nur der Ruf, der den Stadtteil weiterhin ruiniert.

Der Herbst kehrt ein und die Open Air Ausstellung von Nico Baumgarten ist Ende Oktober wieder abgebaut. „Elementarer Teil des Ausstellungskonzeptes war es, die Bilder direkt vor Ort und für alle zugänglich zu zeigen“, sagt der Fotograf. „Ich wollte den Lichtenhäger:innen mit meiner Ausstellung Wertschätzung entgegenbringen.“ Wenn der Stadtteil und die Bewohner nur auf das Pogrom von 1992 reduziert werden, könne das nur negative Konsequenzen haben, so Baumgarten.

Das Nordlicht – das „wohl multifunktionalste Haus der Hansestadt Rostock“

© Foto: Anni Dietzke

Auf dem „Boulevard“ herrscht Mitte November gähnende Leere. Die Brunnen am nördlichen Ende sprudeln nicht mehr. Doch in der Nordlichtschule wird diskutiert: Bei der Bürgerbeteiligung wird der Frage nachgegangen, wie der Lichtenhäger Park zukünftig aussehen und genutzt werden kann. Die Bewohner bringen sich ein. Sie wollen ihren Stadtteil wieder aufwerten.

Dass das heutige Lichtenhagen anders ist als vor 30 Jahren, sagt auch Chris von Wrycz Rekowski, Erster Stellvertreter des Oberbürgermeisters von Rostock. „Viele Menschen unterschiedlicher Herkunft gestalten gemeinsam und respektvoll voreinander unser gesellschaftliches Leben.“

Keine Frage: Das Pogrom von Lichtenhagen ist Teil von Rostocks Stadtgeschichte und darf weder vergessen noch kleingeredet werden. Aber Rostock-Lichtenhagen im Jahr 2022 ist bunt und divers und eben nicht mehr nur das Sonnenblumenhaus.

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