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Hört doch bitte auf die Wissenschaft! Angela Merkel in der Generaldebatte

© Kai Nietfeld/dpa

Eine aufgewühlte Kanzlerin beschwört den Bundestag: Merkel fleht um Corona-Vernunft

Angela Merkel gilt als fast schon unterkühlte Sachpolitikerin. Doch in der Generaldebatte zum Corona-Haushalt geht sie plötzlich aus sich heraus.

Von Robert Birnbaum

Die Kanzlerin regt sich richtig auf. „Was wird man denn im Rückblick auf ein Jahrhundertereignis mal sagen, wenn wir nicht in der Lage sind, für diese drei Tage noch irgendeine Lösung zu finden!“

Angela Merkel schüttelt die geballte Faust am Reichstag-Rednerpult auf und ab. Wenn die Länder die Schulferien partout nicht auf den 16. Dezember vorziehen könnten, dann müsse eben Digitalunterricht her oder sonst was, „ich weiß es nicht“. Sie sie dafür ja nicht zuständig und nicht kompetenz. Aber eins wisse sie: „Wenn wir jetzt vor Weihnachten zu viele Kontakte haben und anschließend es das letzte Weihnachten mit den Großeltern war, dann werden wir etwas versäumt haben!"

Hätte man auch nicht gedacht, dass die Kanzlerin einmal die emotionalste Rede in einer Haushaltsdebatte halten würde. Aber Merkel steht in Sachen Corona seit Wochen unter Dampf. Am Mittwoch in der Generaldebatte zum Haushalt 2021 lässt sie etwas davon ab.

Alice Weidel gibt die Einheizerin

Das hat sicher auch mit ihrer Vorrednerin zu tun. Alice Weidel eröffnet, wie es Tradition ist, als Chefin der größten Oppositionsfraktion die Debatte.

Die AfD-Frau malt das Bild eines Landes in Ketten. Maßnahmen aus der „Trickkiste der autoritären Herrschaft“, die Bürger „eingesperrt“, obendrein „Klimaschutzhysterie“. Weidels Tonfall wird immer verächtlicher. „Kommen Sie raus aus Ihrem geistigen Wandlitz!“

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Merkel kommt dann aber einfach erst mal als nächste ans Pult und redet eine halbe Stunde so, wie man das von ihr kennt: von der größten Herausforderung in der Geschichte der Republik bis zum EU-Gipfel, über den sie dem Bundestag leider wenig sagen könne, weil: „Fast alles ist noch im Fluss.“

In den coronabedingt ausgedünnten Sitzreihen im Saal lässt die Aufmerksamkeit zu wünschen übrig.

Am Ende lässt Merkel ihren Sorgen freien Lauf

Doch auf einmal geht es los: Merkels Coronarede, zweiter Teil. „Die Zahl der Kontakte ist zu hoch, die Reduktion der Kontakte nicht ausreichend“, sagt die Kanzlerin. Von den AfD-Bänken tönt Geschrei und Gelächter.

Merkel schaut kurz nach rechts. „Wissen Sie, das ist der Unterschied", sagt sie. „Ich glaube an die Kraft der Aufklärung.“ Die habe Europa zu dem gemacht, was es heute sei. Und Aufklärung bedeute, „dass man die Schwerkraft nicht außer Kraft setzen kann, die Lichtgeschwindigkeit und auch andere Fakten nicht.“

Alle freuten sich, wenn Forscher einen Impfstoff entwickelten. Aber wenn die Wissenschaft eine Lockdown-Empfehlung abgebe wie die Nationalakademie Leopoldina, noch vor Weihnachten Kontakte zu verringern, weil sonst die Pandemie entgleite – dann heiße es plötzlich: „Na ja, kann sein, kann auch nicht sein.“

Aber die Forscher flehten doch geradezu, jetzt entschieden zu handeln! Merkel faltet beschwörend die Hände aufeinander. „In den nächsten Tagen“ müsse man darüber reden. Und was übrigens die Waffelbuden und Glühweinstände betreffe, die jetzt "mit Liebe" überall entstanden seien, während Restaurants und Kneipen geschlossen sind. „Es tut mir leid", sagt Merkel, "es tut mir wirklich im Herzen leid“ – aber das gehe auch nicht so weiter.

Nach der Kanzlerin kommen die Wahlkämpfer

Die Union applaudiert länger, SPD und Grüne nur kurz. Man wird kurz darauf erkennen, warum. Am deutlichsten fällt es bei SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich auf. Er spricht kurz über die Pandemie und lange darüber, was "Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten" sich als nächstes wünschten. Keine zwei Prozent Verteidigungsausgaben nämlich, und : „Breite Schultern müssen einen größeren Beitrag leisten.“ Der Wahlkampf hat angefangen.

In der Nato-Frage hat Mützenich die Linken-Fraktionsvorsitzende Amira Mohamed Ali gleich auf seiner Seite: Ob ihr mal jemand erklären könne, "wie Kriegsgerät bei der Bekämpfung der Pandemie helfen soll?" Und selbst Grünen-Chefin Annalena Baerbock lobt zwar Merkels Corona-Appell und geht auch sonst recht freundlich mit der Kanzlerin um. Aber in der Klimapolitik bleibe die Koalition weit hinter der eigenen Einsicht zurück.
Die FDP hat übrigens auch nicht geklatscht. Christian Lindner beginnt seine Replik auf Merkels Gefühlsausbruch immerhin auffallend sanft: Kontaktreduzierung und „Umsicht“ vor Weihnachten, das sei schon wichtig. Erst danach versucht der FDP-Chef nächtliche Ausgangssperren lächerlich zu machen: „Vom Gassigehen mit dem Hund geht jedenfalls keine Gefährdung aus.“

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