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Muslime in der Berliner Sehitlik-Moschee begehen das Freitagsgebet.

© dpa/Rainer Jensen

Muslime in Deutschland: Fremde Frommheit

Je schwächer die Bindung an die eigene Religion, desto vehementer die Auseinandersetzung mit dem Islam. Umgekehrt gilt: Die um sich greifende religiöse Antipathie schweißt Gläubige zusammen – Christen, Juden, Muslime. Ein Essay.

Ein Essay von Malte Lehming

Wie viele Muslime leben in Frankreich? Die Franzosen selbst meinen, es seien 31 Prozent der Bevölkerung. In Wahrheit sind es acht Prozent. Und in Deutschland? Die Deutschen meinen, es seien 19 Prozent, in Wahrheit sind es sechs. Und in Großbritannien? Die Briten tippen auf 21 Prozent, es sind aber nur fünf. Und in Belgien? Da steht’s 29 (Schätzwert) zu sechs Prozent (faktischer Wert). Überall in Europa herrscht eine große Diskrepanz zwischen der angenommenen Zahl der hier lebenden Muslime und der tatsächlichen Zahl. Das ergab eine Umfrage von Ipsos-Mori aus dem vergangenen Jahr. Die gefühlte „Islamisierung des Abendlandes“ ist bereits ein gesellschaftlicher Faktor – Le Pen und „Pegida“ machen sich das zunutze.

Die Zahl der Muslime in Europa wird systematisch überschätzt

Unter der Überschrift „Blutspur im Namen des Islam“ schreibt Christoph Schwennicke, der Chefredakteur des Magazins „Cicero“, nach dem Massaker von Paris: „Nein, ich habe den Koran nicht gelesen. Nein, ich habe nicht Sure für Sure gegenübergestellt und sauber abgewogen, wo der Koran nun blutrünstig ist und wo friedfertig. Und ob das Alte Testament nicht am Ende blutrünstiger ist. Nein, ich habe nicht Islamwissenschaften studiert. Das muss ich aber auch nicht. Diese Blutspur um die Welt reicht als Beleg: Mit dieser Religion stimmt in ihrem aktuellen Zustand etwas nicht. Sie verleitet ganz offenbar mehr als jede andere derzeit real existierende Religion dazu, im Namen eines Gottes zu morden.“

Schon vor den Anschlägen von Paris nahmen viele in Deutschland den Islam als gewalttätig wahr

Eine Sonderauswertung des Religionsmonitors der Bertelsmann-Stiftung, die am Donnerstag veröffentlicht wurde, registriert ein wachsendes Unbehagen in Deutschland gegenüber dem Islam. In weiten Teilen dominiert ein Negativbild. Der Islam werde als gewalttätig, intolerant und repressiv wahrgenommen. 57 Prozent der Nicht-Muslime empfinden ihn als Bedrohung – 2012 waren es 53 Prozent. 61 Prozent meinen, der Islam passe nicht in die westliche Welt (2012: 52 Prozent). Die Angst ist dort am größten, wo die wenigsten Muslime leben. In Nordrhein-Westfalen, wo jeder dritte deutsche Muslim zu Hause ist, fühlen sich 46 Prozent bedroht. In Thüringen und Sachsen, wo kaum Muslime leben, sind es 70 Prozent.

{In der Auseinandersetzung mit dem Islam trifft religiöser Analphabetismus auf religiöse Vitalität}

Das sind drei Schlaglichter auf eine Öffentlichkeit, die sich durch Präsenz und Praxis einer Glaubensgemeinschaft herausgefordert fühlt, weil sie um ihren Identitätskern fürchtet. Das Empfindungsspektrum reicht von Irritation bis Ablehnung. Kritisiert wird die angeblich aggressive Natur der Muslime, ihre Unfähigkeit, Kritik zu ertragen, ihr Hang zum Beleidigtsein, ihr Fanatismus, ihr Antisemitismus, die Unterdrückung der Frauen, die Geißelung der Homosexualität, die Intoleranz. All diese Topoi sind vom Rand in die Mitte der Gesellschaft gewandert. Wenn gegen den Islam gewettert wird, weiß man oft nicht mehr, wer spricht. Ist es Papst Benedikt XVI. in seiner Regensburger Vorlesung? Alice Schwarzer? Geert Wilders? Der amerikanische reaktionär-evangelikale Prediger Franklin Graham („Der Islam ist böse“)? Ein Redner der „Pegida“?

Interessant aber ist, dass die Heftigkeit der Auseinandersetzung mit dem Islam in dem Maße zunimmt, wie die Bindung an den eigenen Glauben abnimmt oder abgenommen hat. Ob Kopftuch oder Beschneidung, Moscheebauten oder Gebetsräume, gemeinsamer Schwimmunterricht oder das Schächten: Bei all diesen Themen sind die Töne zunehmend gereizt bis schrill, laut und unversöhnlich. Dabei sind es nicht etwa fromme, praktizierende Christen, die die Debatte vorantreiben, sondern Vertreter der säkularisierten, individualisierten Mehrheit. Der Entchristlichungsprozess des Landes korrespondiert mit einem schwindenden Glaubensverständnis. Die Zurückweisung des Islam speist sich auch aus antireligiöser Motivation. Nicht nur der spezifische Glaube der Muslime ist in den Fokus gerückt, sondern religiöser Glaube an sich.

Immer weniger Deutsche sind gläubig. Die Vereinigung hat diesen Prozess beschleunigt

Immer weniger Deutsche sind gläubig. Die Vereinigung hat diesen Prozess beschleunigt. Während noch rund 70 Prozent der Westdeutschen einer christlichen Konfessionsgemeinschaft angehören, sind es nur 20 Prozent der Ostdeutschen. In einer Großstadt wie Berlin sind bereits 60 Prozent der Menschen konfessionslos. Der große internationale Erhebungsverbund „International Social Survey Program“ (ISSP) befragt weltweit Menschen über das Ausmaß ihrer Religiosität. Demnach sind die neuen Bundesländer die mit Abstand gottesfernste Region überhaupt. „Ich glaube nicht an Gott“, sagen in Ostdeutschland 52,1 Prozent der Befragten, in Westdeutschland 10,3 Prozent, in Russland 6,8, in den USA 3,0 und auf den Philippinen 0,7 Prozent. Als Atheisten bezeichnen sich 46,1 Prozent der Ostdeutschen, bei steigender Tendenz. Diagnostiziert wird dort ein stabiles areligiöses Milieu.

Doch nicht allein die Zahl der Konfessionsmitglieder ist in ganz Deutschland seit Jahren rückläufig, sondern auch die Teilnahme an Gottesdiensten und die religiöse Praxis in Familien, Stichwort: Abend- und Tischgebet. Nur noch eine Minderheit traut den Kirchen eine Orientierungshilfe bei ethischen Fragen und der Bewertung aktueller sozialer Probleme zu. Die Folge dieser Entfremdung ist einerseits ein religiöser Analphabetismus, dem das Verständnis für Frömmigkeit, Glauben, Rituale und Mission fehlt, andererseits religiöse Antipathie, die das Unverstandene im Namen des Rationalismus oder Humanismus ablehnt.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, wie verhalten die deutsche Öffentlichkeit etwa auf das Schicksal bedrohter Christen in anderen Regionen der Welt reagiert. Der Beauftragte für Religionsfreiheit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Massimo Introvigne, geht davon aus, dass weltweit alle fünf Minuten ein Christ wegen seines Glaubens stirbt. Das Christentum ist die am heftigsten bekämpfte Religion. Etwa 80 Prozent aller Menschen, die wegen ihres Glaubens verfolgt werden, sind Christen. Dramatisch ist die Situation vor allem in Syrien. Auf dem Weltverfolgungsindex steht das Land inzwischen auf Platz drei, hinter Nordkorea und Somalia. „Lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen“: Diese Aufforderung des Apostels Paulus (Galater 6,10) prallt indes an einer religiös-christlichen Indifferenz ab, die moralische Kriterien wie Nähe und Verbundenheit negiert.

In der Auseinandersetzung mit dem Islam trifft nun religiöser Analphabetismus auf religiöse Vitalität.

In der Auseinandersetzung mit dem Islam trifft nun religiöser Analphabetismus auf religiöse Vitalität. Kirchen müssen aufgrund mangelnder Nachfrage schließen, Moscheen gibt es immer mehr. Kollektive Frömmigkeitsbekundungen, verbunden mit einem Glauben, der das öffentliche wie private Leben durchdringt, werden als Gegenentwurf zur eigenen entchristlichten, säkularen Prägung wahrgenommen. Das verstört in dem Maße, wie die eigene Identität von spiritueller Haltlosigkeit gekennzeichnet wird. Eine Rückkehr zu ihren christlichen Wurzeln scheint den Menschen vielerorts verwehrt. Dann aber, so will es das Gerechtigkeitsgefühl, sollen die Muslime auch nicht haben dürfen, was man selber nicht mehr hat – einen festen, tiefen Glauben.

{Ein Großteil der in Deutschland lebenden Muslime fühlt sich Staat und Gesellschaft eng verbunden}

Kein Wunder, dass antimuslimische Ressentiments am geringsten bei Menschen ausgeprägt sind, die selbst religiös sind. Die aktuelle Bertelsmannstudie kommt zum Ergebnis, das sich Offenheit gegenüber religiösen Menschen positiv auf die Wahrnehmung des Islam auswirkt. Religiöse Alltagserfahrungen – auch wenn der, der sie macht, nicht gläubig sein muss – seien ein bedeutsamer sozialer Faktor für eine positive Entwicklung des Islambildes. Das gilt auch andersherum. In ihrer ersten umfassenden Meinungsumfrage aus dem Jahre 2008 stellte die Bertelsmann-Stiftung fest: „Die hohe Religiosität der Muslime in Deutschland ist gepaart mit einer sehr pluralistischen und toleranten Einstellung: 67 Prozent der Muslime bejahen für sich, dass jede Religion einen wahren Kern hat, unter den Hochreligiösen mit 71 Prozent sogar etwas mehr. 86 Prozent finden, man sollte offen gegenüber allen Religionen sein.“ Außerdem fühlt sich ein Großteil der in Deutschland lebenden rund vier Millionen Muslime Staat und Gesellschaft eng verbunden. Das ergab, neben der Bertelsmannstudie, auch eine Umfrage des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Gallup („A Global Study of Interfaith Relations“). Die Muslime identifizieren sich sogar stärker mit ihrer Wahlheimat als die Gesamtbevölkerung, 40 Prozent von ihnen spüren eine „enge Bindung zur Bundesrepublik“ (gesamt: 32 Prozent). Erstaunlich hoch ist auch die Wertschätzung der politischen Institutionen.

Menschen in ihrem Glauben zu stärken, macht sie offenbar frei, sich für den Glauben anderer starkzumachen

Menschen in ihrem Glauben zu stärken, macht sie offenbar frei, sich für den Glauben anderer starkzumachen. Nicht allein die kognitive Kenntnis der Vielfalt von Religionen führt zur Toleranz, sondern insbesondere das durch eigene Erfahrung fundierte, empathische Verstehen von religiösem Glauben an sich. Schon längst gibt es deshalb in Fragen des Glaubens und der Toleranz eine ganz große Ökumene von Christen, Juden und Muslimen. Die um sich greifende religiöse Antipathie schweißt Gläubige zusammen. Wenn jüdische Gräber geschändet, Moscheen in Brand gesteckt, über Beschneidung und Verschleierung debattiert wird, schmieden Vertreter von Christentum, Islam und Judentum umgehend Allianzen. Das gilt auch im Kampf gegen Rechtsextremismus.

Der Terroranschlag in Paris gegen Mitarbeiter des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ wurde vom Vatikan und vier französischen Imamen in einer gemeinsamen Erklärung als Akt der „Grausamkeit und blinden Gewalt“ verurteilt. Jeder Mensch müsse sich allen Formen der Gewalt entgegenstellen, die das menschliche Leben zerstörten oder die menschliche Würde verletzten. Die Verantwortlichen der Religionen müssten stets eine „Kultur des Friedens und der Hoffnung“ fördern. Die rechtspopulistische Partei „Lega Nord“ warf daraufhin Papst Franziskus falsche Toleranz gegenüber Muslimen vor.

Den Islam insgesamt zur verurteilen, hieße, den Terroristen in die Hände zu spielen

Für gläubige Muslime ist die Scharia wichtiger als das weltliche Gesetz – ein Christ könnte auf diesen Vorwurf erwidern: Dass man in einer Konfliktsituation „Gott mehr gehorchen soll als den Menschen“, steht im „Augsburger Bekenntnis“ von 1530 ebenso, wie es sich dem Geiste nach in den sechs Thesen der „Barmer Theologischen Erklärung“ von 1934 findet. Der Rechtsstaat, das ist wahr, darf keine Gesetzesverstöße dulden, aber er beschädigt sich selbst, wenn er Gesinnungstreue einfordert. Der große europäische Rechtsgelehrte Ernst-Wolfgang Böckenförde sagt: „Man muss da unterscheiden, was wird mental-ideologisch vertreten und gefordert, und wie verhält sich die betreffende Gemeinschaft tatsächlich? Entscheidend ist, dass eine Glaubensgemeinschaft und ihre Mitglieder die geltenden Gesetze befolgen. Sie mögen dann vielleicht einen inneren, mentalen Vorbehalt haben, doch der freiheitliche Staat kann und sollte als Bedingung für den Bürgerstatus kein Wertebekenntnis verlangen.“

Der Islam ist mehr als eine Religion, er ist eine Weltanschauung – auch das kommt Christen bekannt vor. Der Katechismus der Katholischen Kirche etwa berührt fast alle Bereiche des menschlichen Lebens. Und ob Befreiungstheologie, dissidentische Untergrundgemeinden in China oder das antikommunistische Wirken von Papst Johannes Paul II.: Politisch ist Kirche immer. Das trifft selbstverständlich auch auf Kirchentage und Denkschriften der Evangelischen Kirche zu.

Gewalt und Terror dürfen niemals geduldet werden, weder von Muslimen noch von Nicht-Muslimen. Den Islam als solchen zu verurteilen, weil Islamisten im Namen Allahs morden, würde indes den Terroristen in die Hände spielen. Genau das wollen sie ja, dass wir in unserer Ohnmacht ihre Logik übernehmen, die da heißt: Islam und Westen sind inkompatibel, und wir, die Terroristen, repräsentieren den Islam. Die Anschläge von Paris galten den Zeichnern und der Meinungsfreiheit. Sie zielten aber auch darauf ab, den verhassten Westen in seiner Haltung gegenüber Muslimen zu radikalisieren, damit sich die Muslime wiederum gegenüber dem Westen radikalisieren. Wer Menschen wegen ihres Glaubens in Mithaftung nimmt für Taten jener, die diesen Glauben missbrauchen, macht sich zum Komplizen des Hasses.

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