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Mesut Özil, deutscher Fußballer.

© Daniel Maurer/dpa

Özils Rücktritt: Ein Land spielt falsch

Özil wurde missbraucht als Integrationsmaskottchen, um Weltoffenheit zu symbolisieren. Jetzt schlägt das Pendel mit zerstörerischer Wucht zurück. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Lorenz Maroldt

So, wie Mesut Özil oft mit einem überraschenden Zuckerpass die Verteidigung der gegnerischen Mannschaft entblößte, so hat er jetzt mit seiner messerscharfen Rücktrittserklärung gravierende Haltungsfehler der deutschen Gesellschaft entblößt: „Ich werde behandelt, als wäre ich ,anders‘“, lautet der zentrale Satz, der nicht nur dem DFB das Transparent mit den Worten „Für Integration. Gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ entreißt.

Die billige Entgegnung darauf lautet: Özil verhält sich ja auch „anders“: Bei der Nationalhymne singt er nicht mit, er betet vor dem Anstoß zu Allah, lässt sich mit Erdogan fotografieren und undeutsch die Schultern hängen. Da soll er sich mal nicht so haben.

Am Umgang Özils mit Erdogan ist vieles zu kritisieren, vom freundlichen Treffen an sich bis zur Erklärung dazu. Ein deutlicher Satz zu den Menschenrechten in der Türkei wäre möglich gewesen. Wer zu Integration und Rassismus so politisch scharf argumentiert wie Özil, kann sich nicht hinter einer Respektsbezeugung vor dem Amt verstecken.

Der Fußball zeigt zwar auch gerne mal Rassismus die Rote Karte, aber Entpolitisierung [...] ist ein Teil der DNA von vielen Vereinen und nicht zuletzt dem DFB. [...] Nun sind es genau diese, die eine Entpolitisierung des Fotos für unangebracht oder gar Schlimmeres halten.

schreibt NutzerIn broeckelhaus

Doch nichts davon rechtfertigt den „anderen“ Umgang mit Özil: Sein Verhalten und seine Fehler werden von Ressentiments begleitet und mit rassistischen Stereotypen belegt. Das Problematische, aus Sicht des Betroffenen Unheimliche, sind dabei nicht nur die lautstarken Angreifer, sondern vor allem die schweigsamen Verteidiger. Es ist wie beim Mobbing: Die Täter zu ertragen, ist schon schwer genug; wenn dann das soziale Umfeld auf Tauchstation geht, oder, noch schlimmer, eine „Selber schuld“-Debatte beginnt, zieht es den Opfern den Boden weg.

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Zwei Fälle hat Özil selbst erwähnt: den hessischen SPD-Stadtrat Bernd Holzhauer, der ein Bild der Nationalmannschaft mit den Worten „25 Deutsche und zwei Ziegenficker“ kommentierte; und den Münchner Theaterchef Werner Steer, der dem in Gelsenkirchen geborenen Nationalspieler „Verpiss dich nach Anatolien“ zurief. Und als Özil nach dem Südkorea-Spiel von einem Zuschauer als „Türkenschwein“ beleidigt wurde, war nicht etwa der Angriff selbst das Thema, sondern, weil der Beleidigte reagierte: „Özil legt sich mit deutschem Fan an.“

Özils Gefühl teilen viele in diesem Land

Wo blieben da die Worte der Solidarität? Falls es sie gab, wurden sie übertönt vom Räsonieren von DFB-Präsident Reinhard Grindel und Manager Oliver Bierhoff über die Frage, ob man Özil wegen der Reaktionen auf die Affäre Erdogan nicht besser zu Hause gelassen hätte – und vom dröhnenden Schweigen von Bundestrainer Joachim Löw, der nach dem Titelgewinn 2014 noch schwärmte: „Ich glaube, dass wir alle von dieser Mannschaft lernen können. Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt und nicht seine Herkunft.“ Auch von der Mannschaft war übrigens zu den Angriffen auf Özil nicht viel zu hören.

„Ich werde behandelt, als wäre ich ,anders‘“ – dieses Gefühl Özils teilen viele Menschen in diesem Land. Anders als Lothar Matthäus, der Özil das Deutschsein abspricht und folgenlos Putin hofiert. Anders als Karl-Heinz Rummenigge, der seine Geschäfte mit dem Sklavenstaat Katar folgenlos für unpolitisch erklärt. Und anders selbstverständlich als Krim-Annektions-Versteher Uli Hoeneß, nach seinem Steuerbetrug juristisch anerkannte moralische Instanz in diesem Land, der Özil wider alle Statistik und besseres Wissen attestiert, seit Jahren „einen Dreck“ zu spielen und die Affäre Erdogan als Alibi auszuschlachten.

Ich bin glücklich, in einem Land zu leben, [...] in dem die Funktionäre an jeden dahergelaufenen Diktator ihre Gier-Spiele vergeben können, aber der Einzelne kein Foto mit selbigen machen darf. Wo niemandem dieser Widerspruch auffällt, da ist echter Wohlstandsfrieden!

schreibt NutzerIn gladis

Özil wurde missbraucht als Integrationsmaskottchen, um die Weltoffenheit des DFB und des ganzen Landes zu symbolisieren. Jetzt schlägt das Pendel mit zerstörerischer Wucht zurück. Es bleibt die Frage, die Özil für sich selbst, aber auch für viele andere stellt: „Obwohl ich Steuern in Deutschland bezahle, Einrichtungen für deutsche Schulen spende und die Weltmeisterschaft 2014 mit Deutschland gewonnen habe, bin ich noch immer nicht in der Gesellschaft akzeptiert. Ich wurde in Deutschland geboren und ausgebildet, also warum akzeptieren die Leute nicht, dass ich Deutscher bin?“

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