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Demonstration für die Ukraine am Dienstag vor der russischen Botschaft in Berlin

© Imago/Achille Abboud

„Propagieren Sichtweise des Kremls“: Wo war die Friedensbewegung vor Putins Kriegserklärung?

Obwohl ein russischer Truppeneinmarsch in die Ukraine drohte, gingen in Deutschland kaum Menschen auf die Straße. Nun wird Kritik an der Friedensbewegung laut.

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Am 15. Februar ist Berlin voller Menschen. Eine halbe Millionen zieht mit Fahnen, Luftballons und Plakaten durch die Stadt. Ein breites Bündnis der Friedensbewegung. Ihre Forderungen "Nein zum Krieg" oder "Arbeit und Bildung statt Krieg und Rüstung" haben sie auf große Transparente gepinselt. Von der Siegessäule über die Straße des 17. Juni bis zum Brandenburger Tor - alles ist voll.

Die Szene spielt jedoch nicht im Februar 2022 in den Tagen bevor Russlands Präsident Wladimir Putin nach langen Drohgebärden den Befehl zum Einmarsch in die Ostukraine gibt, sondern im Jahr 2003. Weltweit gehen damals Millionen gegen den drohenden Irak-Krieg auf die Straße und demonstrieren gegen die Politik des damaligen US-Präsidenten George W. Bush.

19 Jahre später ist es in Berlin und anderswo in der Republik trotz der schrittweisen Eskalation an der russisch-ukrainischen Grenze ruhig geblieben. Selbst am Morgen nachdem Putin die beiden selbsternannten "Volksrepubliken" im Donbass anerkannt und Truppen in die Ostukraine geschickt hat, stehen vor der russischen Botschaft in Berlin nur vereinzelte Demonstranten. Erst am frühen Abend kommt es schließlich zur ersten größeren Demonstration vor der Botschaft. Angemeldet jedoch nicht von Akteuren der Friedensbewegung, sondern der ukrainischen Community in Berlin.

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"Ich wundere mich etwas darüber, dass ich so wenig Demonstranten sehe, die gegen Herrn Putin demonstrieren", hatte Landwirtschaftsminister Cem Özdemir am Dienstag im "Deutschlandfunk" moniert. Er kritisierte, die Friedensbewegung sei nur durch den Namen noch mit der Bewegung der 80er Jahre verbunden.

"Bei manchen scheint es so zu sein, dass Menschenrechtsverletzungen immer nur dann zählen, wenn die Amerikaner involviert sind." sagte der Grünen-Politiker. Es hätte genug Anlässe bereits in der Vergangenheit gegeben, kritisierte frühere Parteichef. Bei der Annektierung der Krim, dem Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 oder dem russischen Truppen-Aufmarsch an der ukrainischen Grenze.

Linksjugend: "Der Hauptfeind steht im eigenen Land"

Tatsächlich hatten Teile der Friedensbewegung zu einem Protest am vergangenen Freitag vor dem Brandenburger Tor aufgerufen. Unter dem Motto "Sicherheit für Russland ist Sicherheit für unser Land", hatten mehrere hundert Menschen demonstriert. In dem Demoaufruf hatte es unter anderem geheißen, in den führenden NATO-Ländern werde "gegen Russland gehetzt, es werden Lügen verbreitet und ein drohender Krieg herbeigeredet".

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Ähnlich äußerte sich die Linksjugend Berlin, die Nachwuchsorganisation der Linken, am Dienstagabend: "Der Hauptfeind steht im eigenen Land", schrieb sie auf Twitter und posteten dazu ein Bild von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bei ihrer Reise in die Ostukraine. Sie forderten keine Sanktionen für Russland, eine Zerschlagung der NATO und den Stopp aller Waffenlieferungen. "Der drohende Krieg ist ausschließlich im Interesse der kapitalistischen Großmächte, die um geostrategischen Einfluss und Absatzmärkte in der Ukraine streiten."

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Für den früheren Grünen-Politiker, Publizisten und Gründer der Denkfabrik "Zentrum Liberale Moderne", Ralf Fücks, hat die Friedensbewegung ein strukturelles Problem: "Ein Großteil der deutschen ,Friedensbewegung' war schon immer auf einem Auge blind", sagte er dem Tagesspiegel.

Die Friedensbewegung sei im Kern eine Anti-USA, Anti-NATO und Anti-Israel-Bewegung. "Dass Russland die einzig verbliebene imperiale Macht in Europa ist, die auf Gewalt als Mittel der Politik setzt, kommt in ihrem Weltbild nicht vor", kritisiert Fücks. Und weiter: "Letztlich propagieren diese falschen Friedensfreunde die Sichtweise des Kremls."

Protestforscher: Corona-Demos hemmen Friedensbewegung

Jannis Grimm, Protestforscher an der FU Berlin, sieht mehrere Faktoren dafür, warum in Deutschland mehr Menschen gegen Militäraktionen der US-Amerikaner demonstrieren als gegen den russischen Aufmarsch an den Grenzen der Ukraine: "Aktuell demonstrieren vor allem Querdenker und Gegner der Corona-Politik regelmäßig, deshalb gibt es die Befürchtung, das eigene Thema könnte von ihnen vereinnahmt werden", sagt Grimm dem Tagesspiegel.

Darüber hinaus sei der Protest dann stärker, wenn eine Teilnahme deutscher Soldaten an einem Militäreinsatz zur Debatte stehe. Im aktuellen Konflikt hat die Bundesregierung jedoch klargestellt, dass die Bundeswehr die Ukraine nicht verteidigen wird.

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Und einen dritten Unterschied zu den Prosten von 2003 hat Protestforscher Grimm ausgemacht: "Die Teilnehmer wollten damit auch die Politik in Washington beeinflussen. Diese Hoffnung können sie gegenüber dem russischen autokratischen System nicht haben, dass seine heimischen Proteste brutal niederknüppeln lässt."

Auch Roland Süß sieht mehrere Gründe für die abgetauchte Friedensbewegung. "Es gibt ja nicht die eine einheitliche Friedensbewegung", sagt der 67-Jährige, der zum Koordinierungskreis der globalisierungskritischen NGO Attac gehört und seit dem Ende der 70er Jahre in der Friedensbewegung aktiv ist. Mit 2003, als Attac in erster Reihe gegen den Irak-Krieg demonstrierte, will Süß den aktuellen Konflikt jedoch nicht vergleichen. "Die Situation damals war einfacher einzuschätzen, zudem waren mehr als 80 Prozent in der Bevölkerung gegen den Krieg", sagt Süß.

Gegen den Irak-Krieg waren 2003 weltweit Millionen auf die Straßen gegangen.
Gegen den Irak-Krieg waren 2003 weltweit Millionen auf die Straßen gegangen.

© Fotograf: Marcel Mettelsiefen/dpa

Dieses Mal habe man zwar einen massiven Truppenaufmarsch beobachten können, doch die Sicherheit eines Einmarsches habe es nicht gegeben. Den Warnungen der US-Geheimdienste habe man nicht vertrauen können - schließlich hätten diese schon in der Vergangenheit falsche Beweise vorgelegt.

"Mit Bezug auf Russland gibt es ungelöste Diskussionen"

Gleichwohl gibt auch Roland Süß zu, dass es in der Friedensbewegung durchaus eine Strömung gebe, die Russland sehr positiv gesinnt sei. "Sicherlich gibt es unterschiedliche Maßstäbe, wenn die Friedensbewegung auf Russland oder die USA blickt", sagt Süß. Für ihn ist es ein Problem: "Mit Bezug auf Russland gibt es ungelöste Diskussionen, die wir führen müssen. Nur dann kann es eine starke und sichtbare Friedensbewegung geben, die wir jetzt brauchen", sagt Süß.

Er selbst findet, man könne die Ambivalenz beim Blick auf Putin durchaus aushalten. Putins Aktionen seien eine Antwort auf die Osterweiterung von Nato und EU. "Mit dem Einmarsch in die Ostukraine hat Putin aber das Völkerrecht gebrochen und diesen Schritt gilt es zu verurteilen", sagt Süß. Der 67-Jährige ist sich sicher, dass die Friedensbewegung noch nicht am Ende ist: "Ich denke, die Friedensbewegung wird jetzt auf die Straße gehen. Mit Forderungen, die für Abrüstung und Deeskalation stehen."

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