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Schriftliches Abitur.

© dpa/Jens Wolf

Rechtschreibfehler wurden nicht bewertet?: Schüler müssen Legasthenie-Hinweis auf dem Abizeugnis akzeptieren

Von Leserechtschreibschwäche bis zu Körperbehinderung: Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts dürfte das künftig häufiger vermerkt sein.

„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“, stellt das Grundgesetz klar. Und die UN-Behindertenrechtskonvention verlangt die Garantie eines Rechts auf Bildung „ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit“.

Unter Bezug auf diese Normen wandten sich drei Abiturienten mit Lese-Rechtschreib-Störung an das Bundesverfassungsgericht. Sie sahen sich von ihrer Schule in Bayern diskriminiert, weil ihr Abiturzeugnis vermerkte, dass wegen ihrer Legasthenie Rechtschreibfehler nicht bewertet wurden. Dieser Vermerk sei ein großes Hindernis, um einen Studienplatz oder Ausbildungsplatz zu bekommen.

In der Verhandlung vor dem Verfassungsgericht im Juni hatten sie argumentiert, der Zeugnishinweis habe sie als Behinderte stigmatisiert. „Wie kann es sein, dass der Staat Legasthenikern einen solchen Stempel aufdrückt?“, fragten sie. „Welcher Arbeitgeber stellt jemanden mit einem solchen Eintrag ein?“ Der Eintrag führe dazu, dass Behinderte „aussortiert“ werden.

Personen mit Lese-Rechtschreib-Störungen sind grundsätzlich fachlich genauso kompetent wie Menschen ohne Legasthenie. Sie haben aber Schwierigkeiten, ihr Wissen schriftlich darzulegen. Die Ursachen der Störung liegen in genetisch bedingten Einschränkungen des Sprachzentrums im Gehirn.

Der Erste Senat des Verfassungsgerichts unter Vorsitz von Gerichtspräsident Stephan Harbarth folgte in dem am Mittwoch gesprochenen Urteil dieser Argumentation der Verfassungsbeschwerde aber nicht. Denn die Richter sehen die Schulen in der Pflicht, in Abiturzeugnissen eindeutig klarzumachen, wenn Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen oder Einschränkungen Prüfungserleichterungen erhalten haben.

Bezogen auf die Leistungsfähigkeit ist ein chancengleicher Zugang aller Abiturienten zu Ausbildung und Beruf entscheidend.

Karlsruher Verfassungsrichter

Der Hinweis auf ein Abweichen von allgemeinen Prüfungsmaßstäben, etwa wenn Rechtschreibfehler bei Legasthenikern nicht bewertet werden, diene der Transparenz über die tatsächlich erbrachte Leistung. Entscheidend sei ein „bezogen auf die Leistungsfähigkeit chancengleicher Zugang aller Abiturienten zu Ausbildung und Beruf“. Denn wenn den Legasthenikern gewährte Prüfungserleichterungen nicht offengelegt würden, wäre das eine Benachteiligung von Schülern, die nach den normalen Regeln bewertet wurden.

Die Vorsitzende des Bundesverbands Legasthenie, Tanja Scherle, sagte der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) nach der Urteilsverkündung, ihr Verband unterstütze die Forderung nach Gleichbehandlung aller Schüler. „In der Praxis empfinden legasthene Schüler die Zeugnisvermerke aber als diskriminierend, sie sind eine Hürde bei Bewerbungsverfahren. Daher hätten wir uns erhofft, dass es sie künftig nicht mehr gibt.“

Dabei ist es für sie nur ein kleiner Trost, dass die Legasthenie-Vermerke in den Abiturzeugnissen der drei Kläger wegen inzwischen überholter Vorschriften des bayerischen Schulgesetzes verfassungswidrig waren.

Doch statt eines generellen Verbots dürfte das Karlsruher Urteil künftig zu mehr Hinweisen auf Behinderung in Schulzeugnissen führen. Experten sehen nun großen Handlungsbedarf für die Schulverwaltungen der Bundesländer. Sie müssen prüfen, wie die Abiturzeugnisse gewährte Hilfen und Abweichungen von Prüfungsanforderungen für Schüler mit Behinderungen dokumentieren. Wegen der vom Verfassungsgericht geforderten „gleichmäßigen“ Dokumentierung dürfte es künftig mehr entsprechende Abizeugnisvermerke geben, auch für körperbehinderte Schüler. Der Anwalt der drei Beschwerdeführer, Thomas Schneider, fasst es nach der Urteilsverkündung so zusammen: „Es wird noch komplizierter.“

Die bayerische Landesschulordnung wurde bereits 2010 geändert. Sie sieht nun auch Hinweise auf Behinderungen wie Autismus, Körperbehinderung, Taubheit oder Blindheit vor. Ob die Regeln in dieser Form Bestand haben werden, dazu wollten sich die Vertreter der bayerischen Landesregierung am Mittwoch in Karlsruhe aber nicht äußern. (KNA)

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