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Buchstaben-Wirrwarr statt ganzer Worte: Personen mit Legasthenie haben Probleme mit geschriebener Sprache.

© Hafiez Razali - stock.adobe.com/Hafiez Razali

Digitales Material ist ein Muss: So funktioniert Studieren mit Legasthenie

Anton Tartz hat eine Lese-Rechtschreibstörung – und studiert an der Freien Universität Geschichte. Möglich machen das digitale Hilfsmittel und die Unterstützung von Dozenten.

Lest das mal eben durch!“ Wenn Anton Tartz diese Worte in einem Seminar hört, steigt in ihm eine alte Panik auf. Die Angst, nicht mitzukommen. Den Inhalt des Arbeitsblatts nicht schnell genug zu erfassen. Nicht zu wissen, worum es geht. Heute hat er jedoch digitale Helfer – zum Beispiel Software auf seinem Handy, die ihm Texte vorliest. „Vor zehn Jahren hätte ich nicht studieren können, weil die technischen Möglichkeiten noch nicht so weit waren“, sagt er.

Anton Tartz, 23 Jahre alt, hat eine Lese- und Rechtschreibstörung, auch Legasthenie genannt. Dass er heute an der Freien Universität Berlin Geschichte und Kulturanthropologie studiert, hätten einige seiner früheren Lehrer:innen nicht für möglich gehalten.

„Aufgrund der Legasthenie empfehlen wir kein Gymnasium“, schrieben sie am Ende der Grundschule. Eine Zeit, die für Anton Tartz alles andere als schön war.

Bereits in der ersten Klasse bekam der gebürtige Berliner die Diagnose Legasthenie, doch seine damalige Lehrerin kümmerte sich nicht weiter darum. Mitschüler mobbten ihn, wenn er falsch vorlas. Später bekam er zwar einen Laptop, auf dem er fortan schreiben sollte, doch setzte man ihn damit in eine Ecke, ohne ihn im Umgang mit der Technik zu unterstützen. Am Ende der sechsten Klasse prophezeite ihm die Schule: Nicht einmal die Berufsbildungsreife würde er schaffen.

So geht es vielen Kindern mit Legasthenie. In der Vergangenheit wurden sie früh auf Sonderschulen geschickt, fanden so erst gar nicht den Weg zum Abitur, der unter anderen Lernbedingungen bei vielen durchaus möglich gewesen wäre. Um die acht Prozent der Kinder in Deutschland sollen Legastheniker:innen sein. Es fällt ihnen schwer, die gesprochene Sprache in geschriebene Texte umzuwandeln und umgekehrt.

Anton Tartz hat eine Lese-Rechtschreibstörung und studiert an der Freien Universität Berlin Geschichte und Kulturanthropologie.

© privat

Wissenschaftler:innen vermuten, dass bestimmte Prozesse in ihrem Gehirn bei der Verarbeitung von Sprache anders ablaufen. Mit Intelligenz hat das nichts zu tun. Doch um einen Text zu lesen, brauchen sie viel länger als andere. So kommen sie schon in der Grundschule nicht hinterher, kriegen immer nur einen Teil des Stoffes mit, schaffen es bei Klassenarbeiten nicht bis zur letzten Aufgabe vorzudringen. In einem Bildungssystem, in dem traditionell über Lesen und Schreiben gelernt wird, verlieren sie den Anschluss. 

Anton Tartz’ Mutter ließ sich davon nicht entmutigen. Sie fand ein bilinguales Gymnasium, das ihren Sohn aufnahm und stärker auf seine Bedürfnisse einging. Die Klassen waren kleiner, statt Klausuren mit der Hand zu schreiben, durfte er sie Satz für Satz einem Lehrer diktieren. „Endlich konnte ich zeigen, dass ich etwas kann“, sagt Anton Tartz. Seine Noten wurden besser. Durch offenere Kommunikation in der Klasse gab es kein Mobbing mehr. Am Ende machte er Abitur mit einem Notendurchschnitt von 2,2. Leistungskurs: Deutsch.

Hören statt Lesen

Wenn Anton Tartz heute für die Uni lernt oder für Hausarbeiten recherchiert, liest er nicht: Er hört. Viele Stunden lässt er sich Bücher und Aufsätze von einer Software vorlesen – häufig in dreifacher Geschwindigkeit. „Die Vorlese-Stimmen klingen noch etwas roboterhaft, sind aber schon besser als früher“, sagt Anton Tartz. Eigene Zusammenfassungen der Inhalte diktiert er in sein Handy.

Genaue Zahlen darüber, wie viele Studierende an der FU Legastheniker:innen sind, gibt es nicht. Laut einer Erhebung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung von 2021 haben knapp vier Prozent der Studierenden in Deutschland eine Teilleistungsstörung – dazu gehören Legasthenie oder Dyskalkulie.

An Hochschulen steht Legastheniker:innen per Gesetz ein Nachteilsausgleich zu, der aber nicht klar definiert ist. Er soll Chancengleichheit herstellen, den Betroffenen aber auch keine Vorteile gegenüber anderen Studierenden geben. So ist er in der Praxis nicht immer so leicht festzulegen.

An der FU musste Anton Tartz zu Beginn ein wenig dafür kämpfen, dass er alle seine Prüfungen mündlich ablegen darf. „Das kannten die vom Prüfungsamt noch nicht so“, sagt er. Bei einer mündlichen Prüfung entfällt die Rechtschreibleistung, die von vielen Prüfungsverordnungen gefordert wird. Bisher räumte man Legastheniker:innen lieber mehr Zeit bei Klausuren ein.

Für Hausarbeiten bekommt Anton Tartz einen Monat mehr Zeit als andere Studierende. Rechtschreibung fließt nicht in die Bewertung ein. Immer wieder muss er Anträge stellen, Bürokratie bewältigen. Den Standard-Legasthenietest – die Hamburger Schreibprobe – hat er in seiner bisherigen Bildungskarriere schon sechs Mal gemacht. Da der Inhalt jedes Mal derselbe ist, kennt er ihn teilweise auswendig. Sehr nachteilig für einen Test, der eine Lese-Rechtschreibstörung nachweisen soll.

Digitales Material ist ein Muss

Bei seinen Dozent:innen ist Anton Tartz bisher überwiegend auf Unterstützung gestoßen. Um sich Lernmaterial vorlesen zu lassen, muss es in digitaler Form vorliegen und von Computern lesbar sein. Durch die Pandemie ist das leichter geworden. „Seitdem stellen fast alle Dozenten digitale Dokumente zur Verfügung, statt ausgedruckte Blätter mitzubringen“, sagt Anton Tartz.

Eine Professorin weigerte sich jedoch einmal, ihm die Folien ihrer Vorlesung zugänglich zu machen. Seine Kommilitonen unterstützten ihn und diskutierten mit ihr – jedoch vergeblich. „Grundsätzlich bin ich auf den guten Willen der Dozenten angewiesen“, sagt Anton Tartz. Eine Pflicht, dass Seminartexte digital vorliegen und maschinenlesbar sein müssen, gebe es nicht. Zudem dürfen in Universitätsbibliotheken offiziell nur zehn Prozent eines Buches eingescannt und damit digitalisiert werden.

Seit einiger Zeit engagiert sich Anton Tartz auch im Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V., gibt Workshops für Studierende und andere Interessierte an Universitäten und online. Etwas, das es an Hochschulen bisher kaum gibt. Die meisten Informationsangebote zu diesem Thema richten sich an Eltern von betroffenen Schulkindern, was noch einmal zeigt, dass deren Bildungskarriere lange gar nicht bis an die Unis reichte.

Anton Tartz kann sich vorstellen, später einmal im Bereich Wissenstransfer und Public History zu arbeiten. Demnächst macht er ein dreimonatiges Praktikum bei einer Produktionsfirma für Dokumentationen. „Sei es für den Einzelnen so viel leichter geworden ist, selbst Videos zu produzieren und auf Social-Media-Plattformen zu streamen, ist es auch für Legastheniker einfacher geworden, Wissen zu vermitteln“, sagt er. Auf die Schrift als Medium des Wissenstransfers ist man hier nicht zwangsläufig angewiesen.

Professor:innen, die ebenfalls Legasthenie haben, ist Anton Tartz im akademischen Betrieb bisher noch nicht begegnet. Doch vielleicht wird sich das in Zukunft ändern.

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