zum Hauptinhalt
Michael Müller (SPD) ist seit 2014 Berlins Regierender Bürgermeister.

© Mike Wolff

Regierender Bürgermeister Müller im Interview: „Wir leiden. Es tut im Moment richtig weh“

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller über die Misere der SPD, seine rot-rot-grüne Koalition und die Verbeamtung von Lehrern.

Von
  • Hans Monath
  • Ulrich Zawatka-Gerlach

Herr Müller, wem geht es schlechter, der SPD in Berlin oder den Genossen im Bund?

Uns beiden könnte es besser gehen. Wir leiden gemeinsam unter der Situation. In diesem Jahr bin ich 37 Jahre in der SPD, und es tut im Moment richtig weh.

Wenn Sie das Elend der Sozialdemokratie in vielen europäischen Ländern sehen, kommt Ihnen dann manchmal die Idee, die SPD könne ihre Daseinsberechtigung verloren haben?

Nein, wir haben unsere Daseinsberechtigung nicht verloren. Im Gegenteil: Man sieht doch, welche Probleme wir in Europa haben, und die Sozialdemokratie ist die Kraft, die sie lösen kann. Was mich sehr beschäftigt, ist die Erosion unseres Parteiensystems. Schauen Sie nach Frankreich: Dort scheint es gar keine Haltelinien mehr zu geben, kein Parteiengefüge, das die Situation stabilisieren könnte, weder Gewerkschaften noch Opposition. Es ist dramatisch, wenn in Frankreich eine außerparlamentarische Bewegung Druck auf die Politik ausübt, weil die repräsentative Demokratie es nicht schafft, konstruktive Antworten zu geben.

Deutschland ist aber weit weg von französischen Verhältnissen…

Ja, aber es gibt auch bei uns bedenkliche Entwicklungen. Zumindest bei Landtagswahlen zeichnet sich ab, dass öfter nur Dreierkoalitionen in der Lage sind, eine Regierung zu bilden. Es wird immer schwerer, jenseits der AfD eine Regierungsmehrheit zu bekommen. Nicht nur die SPD hat da ein Problem, das geht weit über uns hinaus.

Was meinen Sie damit?

Wir brauchen auch die Gewerkschaften, die Kirchen, die Sozialverbände. Auch für diese Organisationen wird es immer schwieriger, große Bevölkerungsgruppen zu erreichen und an sich zu binden. Damit will ich nicht in Abrede stellen, wie schwer es derzeit der SPD fällt, ein Profil zu erarbeiten, das die Menschen wieder für uns begeistert.

Parteichefin Andrea Nahles verspricht, den Sozialstaat neu zu erfinden und Hartz IV zu verabschieden – eine gute Idee?

Unbedingt. Digitalisierung und Automatisierung verändern unsere Arbeitswelt radikal und die Gesellschaft wird immer älter. Also brauchen wir besonders für Arbeit und Gesundheit neue Sicherungssysteme. Das ist der eine Grund, warum Hartz IV ersetzt werden muss. Der zweite: Die SPD muss mit mutigen Reformvorschlägen wieder die unverwechselbare soziale Kraft werden. Mit einem klaren Profil. Nur an kleinen Stellschrauben zu drehen, wird uns nicht helfen.

Was wären die großen Stellschrauben?

Gerhard Schröders Agenda 2010 hatte viele positive Effekte. Allerdings hat die SPD dafür mit einem tiefen Vertrauensbruch vieler Wählerinnen und Wähler einen hohen Preis bezahlt. Viele Menschen haben Hartz IV als zutiefst unsozial empfunden und waren furchtbar enttäuscht von der SPD. Nach 15 Jahren ist es Zeit für neue Antworten. Ich habe mit dem solidarischen Grundeinkommen einen ersten Vorschlag gemacht und freue mich, dass dieses Modell bundesweit diskutiert wird. Es ist ein Einstieg, der eine selbstkritische Debatte in der SPD ausgelöst hat.

In der SPD gibt es viel Kritik an Andrea Nahles und Vizekanzler Olaf Scholz. Hat deren Autorität gelitten?

Die Wahl- und Umfrageergebnisse belasten viele Genossen, das kann man ihnen nicht übelnehmen. Natürlich wird in so einer Lage auch über Personen geredet. Als Mitglied des Parteivorstands versichere ich Ihnen aber: Alle wissen, dass Schnellschüsse und Personalwechsel nicht die Antwort sind. Entscheidend ist, dass die inhaltlichen Fragen wieder im Vordergrund stehen.

Im Mai steht die Wahl zum EU-Parlament an. Was ist das Ziel der Berliner SPD?

Wir wollen mindestens so gut abschneiden wie beim letzten Mal. 2014 waren es in Berlin 24 Prozent. Zugegeben, unter den aktuellen Bedingungen ist das ein ambitioniertes Ziel. Aber viele Menschen spüren, dass es ums Ganze geht, um Freiheit, Toleranz und Demokratie. Dafür steht die SPD, die Europawahl ist für uns auch eine Chance.

Sie waren von 2004 bis heute, mit vier Jahren Unterbrechung, Landesvorsitzender. Was ist Ihr Anteil an der Misere der SPD?

Das sind mehr als zehn Jahre und nur der Vollständigkeit halber: als Landes- und ehemaliger Fraktionschef habe ich ebenso großen Anteil daran, dass die Berliner SPD in dieser Zeit viele Erfolge vorzuweisen hat. Wer Verantwortung für Erfolge trägt, ist natürlich auch verantwortlich dafür, wenn es mal nicht so gut läuft. Ich verstecke mich nicht. Ich arbeite daran, dass wir gemeinsam und mit kühlem Kopf aus der Situation wieder herausfinden.

Der Landesvorstand wird erst 2020 neu gewählt. Bis dahin bleiben Sie an der Spitze?

Ja. Ich bin gewählt für zwei Jahre.

Nervt es Sie, dass Bundesfamilienministerin Franziska Giffey in der SPD als Ihre Nachfolgerin ins Gespräch gebracht wird?

Das nervt mich überhaupt nicht. Ich habe schon viele Diskussionen um Nachfolger erlebt, abgesehen davon, dass Franziska Giffey nicht den Eindruck vermittelt, die bundespolitische Bühne schnell wieder verlassen zu wollen. Und: Es kommt immer auf das Gesamtgefüge an – von Personen und Inhalten und einem geschlossenen Auftritt der Partei. Wer behauptet, es müsse nur an einer Stelle personell nachjustiert werden und dann ist alles gut, liegt falsch. Auch das sehen wir auf Bundesebene.

Der Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, hat kein gutes Bild von Berlin. Wenn er hier ankommt, denkt er: „Vorsicht, Sie verlassen den funktionierenden Teil Deutschlands.“ Was würden Sie ihm sagen, wenn Sie ihn treffen?

Was Boris Palmer sagt, ist frei von jeder Sachkenntnis. Offenbar lässt er sich von knalligen Überschriften mehr beeindrucken als von der Realität. Berlin ist eine Stadt, die funktioniert. In einigen Punkten noch nicht gut genug – aber sie funktioniert. Fast vier Millionen Menschen leben hier gut miteinander. Jedes Jahr kommen 40000 neue Berliner hinzu, weil sie hier in einer tollen Stadt leben können mit vielen guten Arbeitsplätzen und einer riesigen Wissenschaftslandschaft.

Palmer sagt, in Berlin gebe es viel Kriminalität, Drogenhandel und Armut? Was ist falsch daran?

Es gibt hier von diesen Übeln sicher mehr als in Tübingen. Aber ich empfehle, die Kirche im Dorf zu lassen. Wir sind nicht die Kriminalitäts- und Drogenhauptstadt. Ich empfehle, sich hier von Fakten und nicht von Emotionen leiten zu lassen. Wir haben Probleme, aber wir gehen sie an.

Haben Sie es schon mal bereut, Regierungschef der rot-rot-grünen Koalition geworden zu sein?

Nein, nie. Es ist nicht einfach, in einer Dreierkoalition zu regieren, aber es gibt viele Gemeinsamkeiten und Schnittmengen. Wir haben keinen Grund zur Selbstzufriedenheit, aber wir kommen voran: Beispielsweise mit dem neuen Sozialpaket für eine bezahlbare Stadt oder bei der inneren Sicherheit. Wir haben mit Rot-Rot-Grün jetzt schon mehr für die Polizei getan als in der vorherigen Koalition, in der die CDU den Innensenator stellte.

In den Umfragen wird die Berliner SPD nach unten durchgereicht, liegt jetzt bei 15 Prozent. Fühlen Sie sich von den Wählern ungerecht behandelt?

Wir arbeiten in der Koalition auf Grundlage des letzten Wahlergebnisses, das bestimmt das Kräfteverhältnis, nicht das Auf und Ab der Umfragen. Auch wenn sich Grüne und Linke freuen, dass sie momentan vor der SPD liegen. Aber wer auf Basis von Meinungstrends Politik machen will, geht ein hohes Risiko ein.

Was sind die Themen, bei denen Sie graue Haare bekommen?

Was mich ungeduldig und unzufrieden macht, ist ein generelles Problem: Manches dauert sehr lange. Bis die Regierungsarbeit gute Ergebnisse zeigt, vergeht mir zu viel Zeit. Es ist in Berlin genug Geld da, aber es wäre schön, wenn der Einsatz der Ressourcen schneller sichtbar wird. Geld allein hilft da nicht, man braucht zum Beispiel auch die Baufirmen und das Fachpersonal in der Verwaltung.

Ein großes Problem ist der Lehrermangel. Warum verbeamtet Berlin als einziges Bundesland seine Lehrer nicht, damit es attraktiv wird, hier zu arbeiten?

Darüber diskutieren wir nicht nur in der SPD, sondern auch zwischen den Koalitionspartnern. Und wenn man wüsste, dass eine Verbeamtung der Lehrer die Situation in Berlin schnell entspannen würde, wäre die Entscheidung schon gefallen. Aber auch in Ländern, die ihre Lehrer verbeamten, stehen die Anwärter nicht Schlange. Überall werden händeringend Lehrerinnen und Lehrer gesucht.

Also, kommt die Verbeamtung?

Wir prüfen, ob die Verbeamtung helfen kann, Lehrer für Berlin zu begeistern. Wie gesagt, die Diskussion läuft. Das Grundsatzproblem wird dadurch aber nicht gelöst: Wir müssen bundesweit Menschen für diesen Beruf begeistern und genügend Ausbildungskapazitäten schaffen. Leider fehlt nicht nur in der Bildung, sondern auch in den Sozial- und Gesundheitsberufen interessierter Nachwuchs.

Zurzeit wird viel über den Checkpoint Charlie diskutiert. Es gibt für diesen bedeutsamen Ort jetzt eine veränderte Planung und sie haben sich im Senat kurzfristig dem Widerstand der Grünen, Linken und Teilen der eigenen Partei gebeugt…

und dem Widerstand des Tagesspiegels, nur keine falsche Bescheidenheit (lacht).

Na, vielen Dank! Ob der umstrittene Investor trotz der neuen Pläne bei der Stange bleibt, ist ungewiss. Was passiert, wenn die Firma Trockland aussteigt?

Zunächst einmal habe ich mich nicht gebeugt. Ich habe zur Kenntnis genommen, dass sich die Haltung in der Koalition zum Projekt verändert hat und das Thema im Senat aufgerufen. Warten wir ab, was die Gespräche über einen neuen Planentwurf bringen. Falls der Investor aufgeben sollte, steht möglicherweise ein Insolvenzverfahren für die Grundstücke an, darauf hat der Senat keinen direkten Einfluss und Vorkaufsrechte greifen nicht. Sollte es neue Investoren geben, müssen wir deren Vorschläge abwarten. Ich persönlich hänge an keinem bestimmten Investor. Mir geht es darum, dass nach Jahren des Stillstands die städtebauliche Entwicklung an diesem wichtigen Ort weitergeht.

Die Seriosität von Trockland ist für Sie kein Thema?

Natürlich ist es mir nicht egal, wer hinter der Firma und ihren Gesellschaftern steht. Zwei Dinge sind mir besonders wichtig: Erstens, dass wir einen langfristig verlässlichen Partner haben, dem es nicht nur um die Rendite geht. Zweitens muss sich die öffentliche Hand am Checkpoint Charlie gestaltend wiederfinden. Etwa in dem geplanten Museum zur Geschichte der Teilung – auch im Wohnungsbau, den wir dort planen.

Die SPD hat auf ihrem Parteitag beschlossen die Videoüberwachung an kriminalitätsbelasteten Orten zuzulassen. Innensenator Andreas Geisel hat daraufhin einen Gesetzentwurf angekündigt. Wann befasst sich der Senat damit?

Der Gesetzentwurf wird gerade intern abgestimmt. Natürlich nimmt Rot-Rot- Grün das Sicherheitsbedürfnis der Berliner ernst und deshalb muss es für Videokameras auf öffentlichen Plätzen eine sachgerechte Lösung geben. Temporär, punktuell und verbunden mit einer Überprüfung des Überwachungserfolgs. Vor zwei Jahren haben wir ja auch gemeinsam ein umfassendes Sicherheitspaket für 40 Millionen Euro beschlossen.

Auf welchen Plätzen?

Das sollte keine politische Entscheidung sein. Es gibt zehn, vielleicht auch mehr Orte in der Stadt, die eine besondere Problemlage aufweisen. In welchem Umfang und wie lange dort eine Videoüberwachung stattfinden sollte, muss die Polizei mit ihrer Sachkompetenz empfehlen.

Herr Müller, was haben Sie sich für 2019 vorgenommen?

Eine funktionierende öffentliche Verwaltung, das ist ein Thema von herausragender Bedeutung. Personell und technisch muss der öffentliche Dienst so ausgestattet sein, dass es nicht weiter zu Engpässen bei kommunalen Dienstleistungen kommt, die uns alle ärgern. Auch der Wohnungsbau bleibt ein beherrschendes Thema, alle nutzbaren Instrumente werden wir dafür einsetzen.

Was wünscht sich der SPD-Landeschef?

2019 muss das Jahr werden, in dem meine Partei bei der Definition des Sozialstaates wieder ein klares Profil findet. Wir haben keine Zeit zu vertrödeln.

Das Gespräch führten Hans Monath und Ulrich Zawatka-Gerlach.

Zur Startseite