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Lange Wartezeiten gibt es auch am Grenzübergang Stadtbrücke von Görlitz nach Zgorzelec.

© imago /Future Image

Schließungen sind vielerorts nur noch Schikane: Es ist höchste Zeit, die Grenzen in Europa wieder zu öffnen

In vielen Fällen wirkten die Grenzschließungen in Europa wie Schikane. Die Bewegungsfreiheit muss wieder eine der Prioritäten werden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Was ist die EU in ihrem Wesenskern: ein Binnenmarkt für freien Warenverkehr oder ein Begegnungsraum für Menschen? In den Wochen seit den Grenzschließungen wegen Corona scheint die Antwort irritierend eindeutig. Freier Warenverkehr ist wichtiger als freier Personenverkehr.

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Die EU-Kommission verlangte, der Binnenmarkt müsse als Grundelement der Integration garantiert sein. Betriebe, die Teile aus anderen EU-Staaten für ihre Produktion benötigen, bekamen sie zuverlässig geliefert. Ebenso Häuslebauer und Handwerker, die Türen, Fenster oder Badeinrichtungen in einem anderen EU-Land bestellt hatten – Güter, die nicht überlebenswichtig sind.

Menschen hingegen durften die Grenzen bis auf wenige Ausnahmen nicht passieren, obwohl die EU-Verträge auch dieses Recht garantieren. Erst jetzt beginnt die EU-Kommission, Bewegungsfreiheit einzufordern und nach der Verhältnismäßigkeit der Grenzschließungen zu fragen.

Es gab Gründe für die Unterschiede. Menschen übertragen das Virus, Waren nicht. Wenn die Wirtschaft zusammenbräche, wären Millionen Arbeitsplätze bedroht und in letzter Konsequenz der Lebensunterhalt der über 500 Millionen EU-Bürger. Man darf jedoch einwenden: Waren werden von Menschen bewegt.

Warum bekamen Lkw-Fahrer sofort Ausnahmegenehmigungen, Krankenschwestern und Pfleger, die in einem EU-Land wohnen und in einem anderen arbeiten, nicht? Und wie passte das zur Rhetorik vor der Pandemie? Damals stand die Begegnung der Menschen im Mittelpunkt der europäischen Idee. Der ökonomische Nutzen wurde selten betont. Denn das konnte, wer wollte, als Lob der Profitgier missverstehen.

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Die EU hatte Großbritannien lieber gehen lassen, als Abstriche bei der Freizügigkeit zuzulassen. Die nationalen Grenzschließungen bedeuten Härten für viele Menschen in Europa. Partner aus binationalen Ehen, die sich im März auf verschiedenen Seiten der Grenze aufhielten, dürfen nicht zueinander. Quarantäneregeln bei Heimkehr stellen Grenzgänger vor die Wahl, den Job im anderen Land aufzugeben oder die Familie wochenlang nicht zu sehen.

Viele Härten ließen sich verstehen, solange die Infiziertenraten und das Ansteckungsrisiko diesseits und jenseits einer Grenze unterschiedlich waren. Dort aber, wo sie ähnlich sind, wirken Grenzschließungen wie Schikane. Die Bewegungsfreiheit der Menschen in Europa muss bei der Abwägung der Risiken wieder zu einer Priorität werden.

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