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Update

Serienmörder von Toulouse: US-Behörden hatten Mohamed Merah im Visier

Mohamed Merah gab an, Al Qaida nahe zu stehen. Und die US-Behörden waren bereits auf ihn aufmerksam geworden. Was steckt hinter den Attentaten von Toulouse?

Was weiß man inzwischen über Mohamed Merah?

Der Werdegang des am 10. Oktober 1988 in Toulouse als Sohn eines französischen Vaters und einer algerischen Mutter geborenen jungen Mannes ist widersprüchlich. Den Minderjährigen haben frühere Nachbarn als „freundlich und hilfsbereit“ in Erinnerung. Als Heranwachsender aber erregte er den Zorn von Eltern, deren Söhne er zum Islamismus zu bekehren versucht haben soll. Eine Frau berichtete jetzt französischen Medien, sie habe ihn sogar angezeigt, weil er ihren Sohn gezwungen habe, Videos anzusehen, auf denen Menschen von Islamisten enthauptet wurden. Insgesamt 15 kleinere Straftaten Merahs sind außerdem aktenkundig, wegen Handtaschenraubs saß er im Gefängnis. Seine letzte Verurteilung datiert vom 24. Februar: Wegen Fahrens ohne Führerschein wurde er zu einem Monat Haft verurteilt. Die Strafe hätte er im April antreten sollen.

Unklar ist nach wie vor Merahs Bezug zum radikalen Islam. Dem Typ eines Salafisten, der enthaltsam lebt, nicht ausgeht, keinen Alkohol trinkt und keine Frauen trifft, scheint er nicht entsprochen zu haben: Bekannte beschreiben ihn als häufigen Besucher von Nachtklubs. Innenminister Guéant nannte ihn einen „Kleinkriminellen, der sich auf atypische Weise selbst radikalisierte“. Seine zwei Reisen 2010 und 2011 nach Afghanistan und Pakistan unternahm er nach den Erkenntnissen der Geheimdienste auf eigene Faust. Als er im Oktober 2011 nach Frankreich zurückkehrte, lud ihn der Geheimdienst vor. Merah gab an, als Tourist unterwegs gewesen zu sein. Laut Innenminister Guéant wurde die Observierung, unter der Merah seit seiner ersten Reise stand, fortgesetzt.

Der mutmaßliche Serienmörder von Toulouse war aber auch im Visier des US-Behörden. Das berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Mohamed Merah habe auf der “no-fly“-Liste für Terror-Verdächtige gestanden, erklärten US-Regierungsvertreter am Donnerstag. Auf der Liste stehen Personen, von denen die US-Behörden meinen, dass sie ein Flugzeug zum Absturz bringen könnten. Die Liste ist die schärfste ihrer Art, auf ihr sind etwa 4000 Namen verzeichnet. Wer darauf steht, darf mit einem Flugzeug weder innerhalb der USA reisen noch in die USA hinein oder aus ihr heraus. Die Liste wird geführt vom “Terrorist Screening Center“, das unter der Obhut des FBI arbeitet und Informationen verarbeitet, die von anderen US-Regierungsbehörden stammen.

Nach Angaben aus US-Kreisen war Merah zudem für kurze Zeit von US-Sicherheitskräften in Afghanistan in Haft genommen worden. Es blieb zunächst offen, wann das war und was mit Mareh danach passierte. Die Behörden in den USA und Frankreich haben erklärt, Merah sei 2010 in Afghanistan gewesen, um an einem Training islamistischer Militanter teilzunehmen. Er habe an der afghanisch-pakistanischen Grenze einige Zeit mit Militanten verbracht, sei gefangengenommen worden und wieder nach Frankreich zurückgekehrt. Nach französischen Angaben war Merah auch danach noch in Afghanistan, kehrte aber selbstständig nach einer Hepatitis-Erkrankung wieder nach Frankreich zurück.

Wie kam die Polizei dem Verdächtigen auf die Spur?

Nach dem ersten Attentat am 11. März hatte nach Informationen französischer Medien der Inlandsgeheimdienst „Direction centrale du renseignement intérieure“ (DCRI) zwei kurze Listen potenzieller Verdächtiger erstellt, eine mit Rechtsextremen und eine mit radikalen Islamisten in der Region Midi-Pyrénées, in der auch Toulouse liegt. Im Abgleich mit den Daten des französischen Auslandsgeheimdienstes DGSE, „Direction générale de la sécurité extérieure“, sollen die Ermittler Verdächtige mit Wohnsitz in Toulouse oder Montauban ausgesiebt haben, die auf den Dschihad-Pfad Richtung Afghanistan und Pakistan gezogen waren. Merah tauchte offenbar als den Salafisten zugeneigter Kleinkrimineller auf sowie anlässlich seines Aufenthalts im afghanischen Kandahar. Die Ermittlungen nahmen laut „Figaro“ Fahrt auf, als die 575 Aufrufe einer Internetanzeige kontrolliert wurden, die das erste Opfer am 24. Februar ins Netz gestellt hatte. Der Soldat hatte ein Motorrad bei einem Onlineanzeigenportal zum Verkauf angeboten. Eine der beim Internetprovider zurückverfolgten IP-Adressen soll zur Mutter des Verdächtigen oder einem anderen Verwandten geführt haben. Nach anderen Darstellungen gaben jedoch ein Yamaha- Händler, der zu dem Roller, von dem aus der Täter die Morde verübt hatte, befragt wurde, die entscheidenden Hinweise.

Wie kann man derartige IP-Adressen zurückverfolgen?

Ähnlich einer Telefonnummer weisen die Anbieter von Internetzugängen, Provider wie T-Online oder O2, dem einzelnen Anschluss oder gar den einzelnen verbundenen Rechnern Zahlenkombinationen zu, mit denen diese eindeutig zu identifizieren und die von ihnen aus im Netz getätigten Aktionen nachzuvollziehen sind. Obwohl die meisten DSL-Anbieter bei jedem Zugang eine neue dieser „Internetprotokoll-Adressen“ (IP-Adressen) vergeben, können sie zurückverfolgen, von welchem Rechner aus zu welchem Zeitpunkt welche Aktionen durchgeführt wurden. Ohne weitergehenden Schutz – etwa durch sogenannte Proxyserver, über die die IP-Adresse im Netz umcodiert wird – ist eine Zurückverfolgung bestimmter Aktionen zu einem bestimmten Rechner für die Strafverfolgungsbehörden kein Problem. Vorausgesetzt, der Gesetzgeber hat sie ermächtigt, Zugangsprofile beim Provider abzufragen.

Wäre die Ermittlung der IP-Adresse in Deutschland möglich?

Rechtlich ist die Ermittlung der IP-Adresse in Deutschland derzeit nicht möglich. Auch wenn die EU-Kommission jetzt auf Berlin Druck ausübt, die Vorratsdatenspeicherung in nationales Recht umzusetzen (siehe nebenstehender Text), noch gibt es keine gesetzliche Grundlage. Ohne diese generelle Regelung zur Vorhaltung der Verbindungsdaten ist kein Nachvollziehen von in der Vergangenheit zugeordneten IP-Adressen möglich. In Frankreich wurde die entsprechende EU-Richtlinie umgesetzt. Die Provider müssen die Verbindungsdaten ein Jahr lang speichern. Damit war offenbar die Ermittlung der fraglichen IP-Adresse möglich. Ob sie entscheidend dafür war, den Verdächtigten zu finden, ist unklar. Das Bundesverfassungsgericht hat das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung im März 2010 gekippt. Und obwohl die Richter für die Speicherung bloßer IP-Adressen niedrigere Hürden angesetzt haben als für persönlichere Daten, gibt es ohne das übergeordnete Gesetz auch keine Legitimation für die bloße Speicherung der Computeradressen.

Welche Gefahr geht vom islamistischen Terror für Frankreich aus?

Frankreich ist seit Jahrzehnten im Visier von militanten Islamisten. Meist handelt es sich um Algerier. Sie werfen der einstigen Kolonialmacht vor, sie stütze das algerische Regime, das lange mit extremer Härte gegen Islamisten vorging. Im Jahr 1999 rief die algerische „Groupe Islamique Armé/GIA“ (Bewaffnete Islamische Gruppe) den Dschihad gegen Frankreich aus. Bereits 1995 hatten GIA-Terroristen Anschläge auf die Metro in Paris verübt, bei denen acht Menschen starben. Ein Islamist aus dem Umfeld der Täter war dann im Jahr 2000 an dem nur knapp vereitelten Angriff auf den Weihnachtsmarkt in Straßburg beteiligt. Die Polizei in Frankfurt am Main nahm damals im Dezember vier Algerier fest, die nur Tage später in Straßburg eine Nagelbombe zünden wollten.

Die Männer gehörten zu einer größeren Bande, die mit der algerischen „Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat /GSPC“ (Salafistische Gruppe für die Predigt und den Kampf) in Verbindung stand. Die GSPC ist eine Abspaltung der GIA und schloss sich 2006 Al Qaida an. Gemeinsam mit Gruppen aus anderen nordafrikanischen Ländern wurde von 2007 an die Vereinigung „Al Qaida im Islamischen Maghreb“ (AQM) aufgebaut. Die Terrororganisation bedroht in Westeuropa vor allem Frankreich und Spanien.

In Gefahr befinden sich aber auch westliche Touristen, die Nordafrika bereisen und in entlegene Gebiete fahren. Im Jahr 2003 hatte die GSPC in der Sahara 32 Reisende entführt, darunter 16 Deutsche. Eine deutsche Frau starb, die anderen Geiseln kamen wieder frei. Auch später entführten Kämpfer von AQM Reisende und töteten einige von ihnen. So starb 2010 ein Franzose, den AQM-Leute in Niger verschleppt hatten. Nach Terrordrohungen aus dem Spektrum von AQM wurde zudem 2008 die Rallye Paris – Dakar abgesagt und aus Sicherheitsgründen 2009 nach Südamerika verlegt.

Mohamed Merah nun bekannte sich zu Al Qaida, doch Sicherheitsexperten vermuten, dass er auf eigene Faust gehandelt hat, allenfalls unterstützt von seiner Familie. Sie gehört offenbar dem salafistischen Spektrum an. Die Salafisten sind eine Hardcorefraktion im Islamismus, sie verlangen ein Leben streng nach den Regeln des Propheten Mohammed. Es befürworten zwar nicht alle Salafisten Gewalt, doch fast alle islamistischen Terroristen entstammen salafistischen Milieus. Im Namen der algerischen Terrorgruppe GSPC beispielsweisse steht das „S“ für „Salafiste“.

Dass sich zu den Morden von Toulouse jetzt im Internet eine Gruppe „Dschund al-Chilafah“ bekannt hat, überrascht. Es gibt eine islamistische Terrorgruppe diesen Namens in Kasachstan. Diese „Soldaten des Kalifats“ sind auch im Internet aktiv. Möglicherweise haben sie die Taten von Mohamed Merah medial vereinnahmt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Diese Taktik passt zum Konzept der psychologischen Kriegsführung von Al Qaida und dem islamistischen Terrornetz überhaupt. Die bekämpften Ungläubigen sollen fürchten, heilige Krieger seien überall.

Wie hoch ist das Risiko für eine solche Tat in Deutschland?

Die Terrorgefahr in Deutschland ist unvermindert hoch. Vor einem Jahr erschoss der junge Kosovare Arid Uka am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten und verletzte zwei weitere. Uka hatte sich über das Internet radikalisiert und in der Nacht vor dem Anschlag ein islamistisches Propagandavideo gesehen. In dem Film wird die fiktive Szene der Vergewaltigung einer muslimischen Frau durch US-Soldaten gezeigt. Uka gab im späteren Prozess an, er habe das Gesehene für echt gehalten und sich berufen gefühlt, Rache an Angehörigen der US-Armee zu üben. Das Oberlandesgericht Frankfurt verurteilte Uka zu lebenslanger Haft.

Große Gefahr geht von Dschihadisten aus, die Deutschland in Richtung der pakistanischen Terrorhochburg Wasiristan verlassen, dort militärisch-terroristisch ausgebildet werden und dann in die Bundesrepublik zurückkehren – eine Reise, die so ähnlich möglicherweise auch der Franzose Merah hinter sich hatte. Mehr als 220 Islamisten aus Deutschland sollen sich seit Anfang der 90er Jahre in Wasiristan aufgehalten oder zumindest versucht haben, dorthin zu gelangen. Derzeit müssen sich am Kammergericht Berlin und am Oberlandesgericht Koblenz insgesamt drei Islamisten verantworten, die in Wasiristan von Al Qaida beauftragt worden sein sollen, Deutschland zu attackieren.

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